gfs.echo – der Politik-Podcast
Kurz, präzise, verständlich:
Wöchentliche Analysen von gfs.bern mit Gästen aus Politik und Gesellschaft.
gfs.echo ist der Politik-Podcast von gfs.bern. In 25–35 Minuten sprechen Lukas Golder und Jenny Roberts aus seinem Team mit Gästen aus Verwaltung, Verbänden, Parteien und NGOs. Locker im Ton, präzise in der Sache: Fakten einordnen, Annahmen testen, Konsequenzen für die Praxis benennen. Jede Folge liefert Zahlen aus aktuellen Studien, eine klare Einordnung und einen Blick nach vorn. Wöchentlich – als Video und Audio.
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gfs.echo #06, Jahresend-Special: Kostensorgen und Vertrauenskrise – warum das Sicherheitsgefühl in der Schweiz wankt
Veröffentlicht am: Dauer:
In der Folge erwähnte Studien:
ETH-Sicherheitsstudie «Sicherheit 2025»
Transkript gfs.echo #06
Off-Sprecher
gfs.echo, der Podcast von gfs.bern. Mit Lukas Golder und Jenny Roberts.
Lukas
Festtagsspecial. Heute ist der Podcast ein bisschen eine Spezialausgabe. Ich freue mich sehr darauf. Chloé Jans ist neben mir. Sie ist Senior-Projektleiterin und für das Sorgenbarometer zuständig. Wenn ich von Co-Leiter rede, ist das Urs Bieri eben der Co-Leiter, der «Wie geht's Schweiz?» für die SRG zum Beispiel macht. Und Jenny ist wie immer bei mir. Sie hat auch ein bisschen andere Studien angeschaut. Und der Eindruck ist für mich, es war ein Jahr der Widersprüche.
Jenny
Ja, also du und ich haben uns in den letzten Monaten natürlich stark mit dem Thema Gesundheitspolitik beschäftigt, im Rahmen der ersten Staffel von gfs.echo und mich dünkt schon auch, also vor allem bei einem Punkt, der sich durchgezogen hat, habe ich immer wieder Widersprüchlichkeiten gesehen und das ist die ganze Kostenfrage. Also wir haben einerseits die Bevölkerung, die sich ein super Gesundheitssystem weiterhin wünscht, mit viel Innovation und gleichzeitig verfolgt uns auch die Kostenfrage und es stellt sich die Frage, inwiefern wir das in Zukunft in den Griff kriegen.
Lukas
Prämien waren die Top-Sorge in den letzten Jahren. Wie sieht es im Moment aus bei den Sorgen?
Cloé
Ist auch dieses Jahr wieder an erster Stelle. Natürlich auch vor dem Hintergrund von Gesundheitsversorgung. Man möchte, wie du gesagt hast, Jenny, das Wichtigste und das Beste haben. Aber natürlich vor allem auch im Zusammenhang mit der Kostenfrage. Die Prämienlast drückt. Das sieht man ja auch bei diversen politischen Anliegen. Es sind nicht nur die Gesundheitskosten, die das Thema sind. Wohnkosten reden wir auch immer wieder darüber, stimmen wir ab. Und im Sorgenbarometer haben wir auch gesehen, zum Beispiel plötzlich Sparen, Staatskosten sind auch ein Thema. Also Kosten, definitiv eines der Themen 2025.
Lukas
Die Sorgen stehen ja auch ein bisschen im Zentrum bei diesem Barometer. Man fragt ganz konkret, was ist das dringendste politische Problem? Aber es ist auch ein Vertrauensteil da, in diesem Sorgenbarometer. Ist das auch wieder so ein Widerspruch, immer mehr Sorgen um die eigene Situation finanziell, aber auf der anderen Seite wenig Vertrauen?
Cloé
Ja, also ich glaube, was man als Erstes sagen muss, trotzdem, dass man weniger Vertrauen in das politische System im Bundesrat vor allem dieses Jahr hat, es gab ja auch recht viel Dissonanz aus dem Bundeshaus dieses Jahr, ist es so, dass das Vertrauen international vor allem immer noch recht hoch ist. Und was ich eben vor allem auch einen Widerspruch finde, das ist etwas, wo man vielleicht auch gleich den Urs einbeziehen könnte, weil seine Studie habe ich geklaut aus der "Wie geht's Schweiz?"-Studie. Dort hat es mich mega spannend gedünkt, dass die Leute eigentlich sagen, Kosten sind ein Thema, es stresst mich, es bedrückt mich, es sorgt mich. Aber eigentlich gibt es nicht so viele in der Schweiz, die wirklich, wirklich unter prekären ökonomischen Umständen leben. Und das ist auch quasi die Dringlichkeit, die gesellschaftliche, die das Thema hat und die individuelle Situation sind auch ein bisschen andere.
Urs
Also ich finde genau das spannend, wenn man "Wie geht's Schweiz?" aus der Sicht, wie geht es mir als Einwohner, Einwohnerin in diesem Land, in meiner Familiensituation, mit meinen Kindern, die vielleicht auch in der Schule sind oder ich bin älter und habe irgendeine Pension oder eine kleine Pension, wirklich anschaut, was mit Sorgen tatsächlich entsteht. Das ist plötzlich ein ganz anderer Sorgenbarometer. Es sind nicht mehr die gesellschaftlichen, die politisch stark diskutierten Sorgen, sondern meine Sorge ist, bin ich reich, bin ich arm, bin ich krank, bin ich gesund und vor allem auch, bin ich einsam oder habe ich ein tragfähiges Beziehungsumfeld? Immer wenn die Antwort Nein ist in diesem Zusammenhang, wenn ich arm bin, wenn ich krank bin, wenn ich einsam bin, dann wird die Sorge zu einer existenziellen Not. Und meine Zufriedenheit in der Schweiz, insbesondere in diesem reichen Land Schweiz zu leben, nimmt enorm ab. Und der Vorteil ist halt, die wenigsten haben das. Die meisten Personen sind eben nicht arm, die meisten Personen sind nicht einsam, sie sind auch nicht krank. Und darum muss es vielleicht rein aus dem eigenen Alltag heraus durchaus eine hohe Krankenkassenprämie leiden. Man geht deswegen nicht auf die Strasse, auf die Barrikaden, solange eben die anderen, die individuell wichtigen Sorgen erfüllt sind, mag es relativ viel als Gesellschaft leiden.
Lukas
Ich habe das Gefühl, die Resilienz kommt vielleicht von innen, aber auf der anderen Seite nehmen natürlich die geopolitischen Sorgen auch zu. Hast du nicht aus diesem Sorgenbarometer auch mitgenommen, dass das einfach auch diese Unsicherheit auf das Gemüt wirklich durchschlägt?
Cloé
Doch extrem, wir haben es wieder mit extrem existenziellen Sorgen zu tun. Also wir haben wieder Krieg in Europa, das hinterlässt schon auch Spuren, auch wenn man merkt, geht ein bisschen auf das ein, was Urs gesagt hat, dass wir schon in einer sehr privilegierten Lage sind in der Schweiz. Das Sicherheitsgefühl ist trotzdem immer noch relativ hoch, aber Krieg in der Ukraine macht den Leuten mehr Sorgen, deutlich mehr als letztes Jahr, Krieg in Gaza. Einer der grössten Sorgensprünge, die ich in der Geschichte des Sorgenbarometers gesehen habe, ist die Sorge um die Präsidentschaft von Donald Trump. Das ist wirklich etwas, das die Leute extrem beschäftigt. Das Vertrauen in die USA ist wirklich quasi ins Loch gefallen. Und da sehen wir schon, die geopolitischen Unsicherheiten, die machen... den Leuten Sorgen. Und ich finde, die spannende Frage wird sein, wem unterwerfen wir uns? Den USA oder Europa? Weil Europa ist auch wichtiger geworden. Also da sieht man schon, der Druck ist von allen Seiten auf das gallische Dorf Schweiz am einwirken. Und wer am Schluss dann wirklich die Leseweise der Situation bestimmt, das nimmt mich dann Wunder.
Urs
Ich finde, das Wort Unsicherheit extrem spannend, wenn man es aus dem eigenen Alltag aus sieht. Ich sehe mal in der Studie "Wie geht's Schweiz?" die Bevölkerung ist viel unsicherer. Sie ist insbesondere mit Blick in die Zukunft unsicherer. Sie ist unsicherer, ob unsere nachfolgenden Generationen noch das Gleiche oder den gleichen Wohlstand erleben wie wir erlebt haben. Und das hat genau mit diesen Problemfeldern zu tun. Also irgendwo sieht man am Horizont dunkle Wolken, die da auftauchen. Man steht selber nicht im Regen, vielleicht sogar wirklich in der Sonne, aber trotzdem sind diese Wolken da. Und man vermutet oder befürchtet tatsächlich, dass es so zufrieden oder so glückselig oder so gallisches Dorf-artig nicht weitergehen wird.
Jenny
Du siehst eben, bei "Wie geht's in der Schweiz?", die Bevölkerung ist unsicherer als auch schon, was die eigene Sicherheit anbelangt. Aber vielleicht muss man das auch noch in den Kontext setzen. Es gibt quasi die Sicherheit in der Schweiz drin, die vielleicht zurückgeht, aber insgesamt eigentlich immer noch recht hoch ist. Aber vor allem, wie es Cloédu schon so ein bisschen antönt hat, es geht vor allem um die internationale Sorgen. Beispielsweise habe ich die ETH-Sicherheitsstudie angeschaut und dort hat es mich schon recht gewundert. Es sind nur etwa ein Fünftel der Leute, die eine optimistische Sicht auf die weltpolitische Lage haben. Ich denke, es sind vor allem der Druck von aussen, der dann das Gefühl ausmacht und weniger der Schweiz-interne.
Urs
Das spürt man in verschiedenen Studien sehr stark. Du hast es angesprochen mit der Vertrauensfrage. Unser System hat verschiedene Elemente, die wichtig sind in der Demokratie. Wir können teilnehmen, wir haben Teilhabe, wir können abstimmen. Das hilft uns sehr zufrieden mit diesem System. Wir sind auch zufrieden mit mit der Systematik, mit dem Regelwerk von diesem System, mit der Gewaltenteilung, mit dem Gesetzgebungsprozess. Das ist der Bevölkerung eigentlich unbestritten. Was aber tatsächlich das Problem ist, du hast es sehr schön angesprochen, ist auch die Output-Sicht. Und dort hat auch die Schweizer Bevölkerung einfach grosse Fragenzeichen. Ob die Politik als Resultat noch die Probleme lösen kann, die im Moment anstehen, auch wenn man sie vielleicht selber nicht als Problem erlebt. Die Angst und die Befürchtung ist da und sie mindert sichtbar die Zufriedenheit auch in der Schweiz mit dem politischen System. Eine grosse Studie gemacht auch in den Nachbarländern, noch viel weitergehend ist das weiterentwickelt im Ausland, in den Nachbarländern.
Lukas
Aber haben wir jetzt eine Vertrauenskrise? Sagen wir jetzt auf der nationalen Ebene, Bundesrat, haben wir gesehen, verliert, ist es eine Vertrauenskrise politischer Institutionen, ja oder nein?
Urs
Die spannende Frage ist, wie man Vertrauen definiert. Wenn man sagt, Vertrauen ist "Alle denken gleich", dann haben wir eine Krise, weil wir denken nicht mehr alle gleich, aus ganz vielen Gründen nicht. Aber vermutlich ist ein gesunder Grad von Polarisierung im Sinne von Vielfalt der Meinungen und Reibungsfläche, der Kern der Politik, absolut zentral. Darum heisst es einfach, andere Meinungen zu haben und dem Gegner vielleicht auch etwas misstrauen. In Bezug auf seine Meinung ist es vielleicht gar nicht so schlecht. Schwierig wird es tatsächlich dann, wenn die Vertrauenskrise zu einer Spaltung wird und wenn man nicht nur einfach anderer Meinung ist und vielleicht nicht glaubt, was die andere Person sagt, sondern die andere Person dabei auch noch sehr doof findet und schlussendlich nicht mehr bereit ist, sich mit dieser anderen Person auseinanderzusetzen. Dann haben wir eine Vertrauenskrise. Aus meiner Sicht in der Schweiz es nicht der Fall.
Cloé
Man könnte auch sagen, eine Vertrauenskrise hat man dann, wenn die Erwartungen, die man an ein System hat, einfach permanent enttäuscht werden. Ganz unabhängig davon, ob wir jetzt polarisiert sind oder nicht. Und ich finde, da sieht man im Sorgenbarometer zum Beispiel die mega spannende Frage, die man die Leute immer fragt. Haben die dann das Gefühl, die Schweizer Politik müsste jetzt mit Bezug auf die Aussenpolitik offensiver auftreten und dort zeigen die Leute Jahr für Jahr, ja gern, viel offensiver, klarere Ansagen machen. Und was zurückkommt, ist aber immer, man hat das Gefühl, das ist nicht erfüllt worden so. Und das kann halt auch zu einer Vertrauenskrise führen. Und gerade im Moment, wo so fest Aussenpolitik im Zentrum steht und wo es so fest darum geht, wie die Schweiz ihre Interessen gegen Aussen eben auch verteidigt, Stichwort Zollhammer zum Beispiel, kann es eben auch sein, dass durch diese enttäuschten Erwartungen schlussendlich einfach auch das Vertrauen sinkt.
Lukas
Hat man nicht auch gesehen, dass die Schweiz in diesen Fragen schwach ist?
Cloé
Ich glaube, es ist schon ein Reality-Check, ganz ehrlich gesagt. Da würden jetzt gewisse Leute, je nach Seite des Spektrums, wo man draufsteht, vielleicht etwas anderes sagen. Aber schlussendlich ist die Schweiz ein kleines Land, verhältnismässig für die Grösse eine grosse Volkswirtschaft. Aber trotzdem, man kann nicht einfach kommen und jede Ansage machen. Man ist dann halt auch ein bisschen konfrontiert mit den mächtigeren Leuten. Und im Moment findet eine Reorganisation von geopolitischen Machtverhältnissen statt. Und da ist jetzt die Schweiz nicht die, die an vordester Front mittun kann. Und ich könnte mir schon vorstellen, dass das auch ein bisschen ernüchternd ist.
Jenny
Ich glaube, das erklärt zu einem gewissen Grad auch den Punkt, den du eingangs erwähnt hattest, mit dem tendenziell sinkenden Vertrauen in den Bundesrat gemäss Sorgenbarometer. Und doch, um den Bogen wieder ein bisschen aufzumachen, ich habe das Gefühl, es ist wichtig, dass wir uns vor Augen führen. Es ist nicht so, dass wir grundsätzlich ein tiefes Vertrauen in die verschiedenen politischen oder auch sonstigen Institutionen im Schweizer System hätten. Es ist vielleicht etwas, wo man jetzt ein bisschen näher hinschauen muss als auch schon. Aber insgesamt stehen wir nicht so schlecht an, oder?
Cloé
Ja, voll. Es ist aber auch nicht nur aufgrund von ausserpolitischen Vorkommnissen. Ich habe das Gefühl, wirklich, gerade wenn man über den Bundesrat redet, hat man wie so im ersten halben Jahr, ist wirklich einfach eine Krise nach der anderen, Kampfjets, eben Zollhammer, irgendwie hat das Gefühl, das Gremium hat nicht funktioniert. Und das trägt natürlich auch dazu bei. Aber wir haben schon auch, ich weiss jetzt, eben, ich glaube, wie du gesagt hast, Urs, Im System an sich ist ein grosses Vertrauen da und man wünscht sich weiterhin demokratische Strukturen und man glaubt auch an das. Aber man ist schon auch ein bisschen weniger verzaubert durch das, was politische Parteien machen, was Nationalen Ständerat machen. Da ist schon mehr Misstrauen da als auch schon.
Lukas
Gehen wir in die Dinge, wo das Vertrauen offensichtlich, wie Urs gesagt hat, ein wenig stärken können. Das ist die direkte Demokratie. Das ist auch ein Mythos. Es hat auch den Vorteil der Rückkopplung. Gehen wir noch ein wenig auf die Abstimmungen ein. Nämlich die Umweltverantwortungsinitiative Anfang Jahr und jetzt auch die zweite Initiative, die den Klimabezug in diesem Jahr hatte, nämlich die Forderung nach Erbschaftssteuer zugunsten des Klimas. Beide sind sehr deutlich gescheitert und die Grünen verlieren alle kantonalen Wahlen im Moment. Ist die grüne Welle jetzt komplett durch?
Cloé
Ich glaube, im Moment sind wir einfach wieder in einer sogenannten postmaterial... äh, in einer materialistischen Welt. Das ist eben, wenn man mit den Fremdwörtern um sich wirft, dann fällt man darüber. Also Kosten sind wieder wichtiger, sagen wir so. Es geht weniger um Identitätspolitik, es geht weniger um vielleicht auch Nachhaltigkeitsthemen. Das heisst nicht, dass die Leute es weniger wichtig finden, im Gegenteil. Gemäss Sorgenbarometer weiterhin an zweiter Stelle, gerade bei jungen Leuten extrem wichtig. Aber die ökonomische Achse gewinnt im Vergleich zu den anderen Achsen, zu der kulturellen, zu der Umweltfrage, wieder an Bedeutung. Und das heisst, man setzt sich einfach wieder mit diesen Themen auseinander und man möchte dort einfach wieder dringlichere Lösungen haben, als es vielleicht früher der Fall war. Die Umweltfrage muss die Bühne jetzt ein bisschen mehr teilen, als vielleicht noch vor vier, fünf Jahren.
Urs
Ich finde genau diesen Punkt sehr spannend. Was in der Schweiz relativ wenig diskutiert ist, ist die Interdependenz, der Zusammenhang zwischen den Themen. Die Themen sind nie losgelöst. Jedes Thema ist zusammen mit einer ganzen Themenwelt relevant. Und darum kann es eben sehr gut sein, dass gleichzeitig fünf verschiedene Themen sehr hohe Wichtigkeit haben und sehr hohe Problemsicht. Und gleichzeitig halt nicht jedes davon Abstimmungen oder sogar Wahlen gewinnen kann. Beim Ökologie-Thema, beim Klima-Thema sehen wir es im Moment sehr gut. Es wird im Moment sehr stark, gerade auch von linker Seite, übertüncht oder überstrahlt von einer Diskussion rund um Kaufkraft, über eine Diskussion rund um Reich versus Arm, die berühmte Schere zwischen dem Einkommen und den Vermögen, wie sie stattfindet. Und von rechter Seite halt auch sehr stark das Thema Migration, Öffnung versus quasi Eigenorientierung und das sind alles Themen, die immer im Wettbewerb miteinander gekämpft haben, aber im Moment sind gerade die Themen Kaufkraft und Migration einfach wesentlich stärker. Sie dominieren im Moment und man kann fast jede Abstimmung irgendwo mit diesen beiden Aufhängern mindestens miterklären.
Lukas
Eine Provokation, die ich auch gemacht habe, ist, dass die Stimmberechtigten oder der Stimmkörper egoistischer wird. Du bist da ein bisschen anderer Meinung.
Urs
Ja, Egoismus ist sehr ein grosses Wort. Egoismus gibt es seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden. Früher war irgendeiner Kaiser und hatte alles und die anderen nichts. Das ist maximaler Egoismus von einer Person versus alle anderen. Kleinräumiger gab es das immer. Ich glaube, verändert hat sich einfach die Grösse der einzelnen Gruppe. Früher war ich in meinem Dorf, vor 100 Jahren, zusammen mit den anderen im gleichen Milieu, sehr homogen, wir waren alle Männer, wir hatten alles zu sagen politisch und dann wurde mein Entschied, auch wenn er sehr egoistisch war, geteilt vom ganzen Dorf. Das hat sehr nicht egoistisch ausgesehen und heute werden die Gruppen immer kleinzelliger und es gibt immer kleinere Gruppen mit einem sehr spezifischen Interesse, bis eben vielleicht hin zur einzelnen Person. Aber schlussendlich machen sie noch genau das gleiche wie früher, sie vertreten ihre eigene Meinung, aber sie haben damit vielleicht sehr viel stärkere Konkurrenz mit ganz vielen anderen Meinungen und damit wird sehr viel sichtbarer.
Cloé
Ja, und vielleicht im Zusammenhang mit dem, was du vorher gesagt hast, die affektive Polarisierung. Man mag es sich einfach auch weniger gönnen. Also wenn dann die anderen mal gewonnen haben, die eben vielleicht nicht mehr die gleichen sind wie vorher und man selber ist in der Minderheit, dann stresst einem das. Dann findet man, jetzt haben sie schon wieder die und man mag sich nichts gönnen und man mag nicht miteinander reden und man hat ganz andere Prioritäten und die Differenzen treten damit halt schon viel stärker in den Vordergrund.
Urs
Das ist eine ganz wichtige Unterscheidung. Es gibt eine bekannte Studie der Uni Madrid, die genau das untersucht. Und zum Schluss kommt, es gibt zwei Arten von Polarisierung. Die eine ist rein inhaltlich, es ist einfach der Wettkampf der Meinungen, wo sich Ideologien aneinander reiben und damit vielleicht tatsächlich etwas Besseres entsteht. Die Studie kommt zum Schluss, dass etwas Besseres entsteht, dass politische Systeme stabiler sind, wo eben der Meinungswettkampf tatsächlich stattfindet. Das kann aber übersetzt, das sagst du sehr präzise, zur affektiven Polarisierung führen, also dass man nicht nur nicht mehr miteinander spricht, sondern wirklich gespalten ist in der Gesellschaft, dass man nicht mehr bereit ist, miteinander im Privaten zu sprechen, nicht mehr bereit ist, miteinander zu leben, dann ist das nicht eine Polarisierung, die nützt, das ist eine Polarisierung, die spaltet, die vermutlich auch im Egoismus der jeweiligen Gruppe Vortritt gibt. Und in Gesellschaften, wo das stark ist, du hast USA angesprochen, ist halt tatsächlich auch der Output von Politik wesentlich schlechter und weniger nachhaltig als in Ländern wie der Schweiz, wo man es sich gar nicht leisten kann, wenn man immer in Minderheit ist, bis in das Parlament.
Lukas
Jenny, wir sind ohne meine Moderation zu diesem schon polarisierenden Thema im Vorgespräch gekommen, zur Polarisierung. Wie steht eigentlich die Bevölkerung selbst zu diesem Thema? Sie wählt zum Teil oft ein wenig polarisiert. Manchmal hat man das Gefühl, sie stimmt mir einmal mit dieser und einmal mit dieser Seite. Hauptsache ein wenig Pfeffer drin. Ist die Polarisierung sozusagen gewollt?
Jenny
Ich finde es noch schwierig, allgemeingültig zu sagen. Gleichzeitig, wenn man auch an die Abstimmungen denkt vom letzten Jahr, die wir uns angeschaut haben, oder gerade die letzte im November im Kanton Zürich, da gab es vielleicht ein gutes Beispiel dazu, zum Stadt-Land-Graben. Da habe ich schon sehr das Gefühl, es gab einzelne oder mehrere Abstimmungen in den Jahren vorher, die im Sinne mehr von der städtischen Bevölkerung ausgegangen sind. Und jetzt gerade im November hat man gesehen, schlägt man wieder zurück. Also das ist schon eine Tendenz, die man vielleicht vermehrt sieht, jetzt aber vielleicht eben bei anderen Themen, anderen Abstimmungsvorlagen viel weniger.
Lukas
Ja, ein Thema, das ich auch beobachte und das Gefühl habe, der Konflikt wächst, aber es ist nicht immer einheitlich, es gibt wechselnde Mehrheiten. Das ist ja das Argument, wieso die direkte Demokratie auch moderieren kann und nicht einfach eine harte Polarisierung fördert. Das ist das Thema Wohnen. Dort hat in diesem Jahr eigentlich die Vermieterseitn einen grossen Sieg aus ihrer Sicht gemacht, bei der Eigenmietwertabschaffung. Letztes Jahr haben wir aber Mietrechtsrevisionen, die Gegenseite, die Mieterschaft hat dort einen klaren Sieg errungen. Auch hier: Ist das ein Konflikt, der wächst? Sind Widersprüchlichkeiten auch dort, je nach Thema, unterschiedlich?
Cloé
Also ich glaube, man muss schon unterscheiden zwischen medialer Realität und gesellschaftlicher Realität. Die mediale Realität ist einfach die, dass nichts besser funktioniert als ein schöner Graben, sei das der Röstigraben, der Geschlechtergraben, der Stadt-Land-Graben sehr fest. Und das ist etwas, worüber wir viel diskutieren. Wenn man nachher schaut, in unseren Studien oder eben manchmal auch an einem Abstimmungssonntag, ist das schon da, dass es das gibt. Und ich glaube, das Wohnthema spaltet stark entlang vom Stadt-Land-Graben. Wenn man jetzt aber den letzten Abstimmungssonntag anschaut, Vorkaufsrecht in Zürich oder andere, Eigenmietwert, ist es so, dass das Thema zwar sehr wichtig ist im Moment, die Kostenfrage, gerade im Zusammenhang mit Wohnen, ist im Sorgenparameter in den Top 10. Das ist etwas, was die Leute wirklich stresst. Nicht nur, weil es immer teurer wird, sondern weil es gerade in den Städten weniger Wohnraum gibt. Auf dem Land und in den Agglomerationen ist es vielleicht so, dass man sich eben nicht mehr den Traum eines Eigenheims leisten kann. Aber ich glaube, man muss dann schon genau hinschauen, wie fest ist das Thema wirklich eines, das extrem kocht. Im Moment habe ich das Gefühl, medial findet das sehr stark statt, vielleicht auch, weil viele Themen auch aus den städtischen Zentren journalistisch vielleicht auch gesetzt werden. Aber es ist etwas, was prägt und es ist etwas, was die Kostenfrage vor allem so extrem alltagsnahe macht. Und ich glaube, darum ist das schon etwas, was uns auch noch länger beschäftigen wird.
Jenny
Etwas, wo mich eure Sicht noch interessieren würde, gerade bei diesem Wohnthema im September, haben wir ja über die Abschaffung des Eigenmietwerts abgestimmt. Und ich war eigentlich immer der Meinung, in der Schweiz sind wir in der Regel ein Volk von Mieterinnen und Mietern. Trotzdem ist das am Schluss relativ klar angenommen worden. Wie ordnet ihr das ein?
Urs
Das ist eben die Frage, von welchem Volk man spricht. Redet man von Bevölkerung, dann sind wir das tatsächlich. Auch nicht wahnsinnig stark, aber wir sind es. Oder redet man von Stimmvolk, von der Person, die schlussendlich im Urnengang teilnimmt. Und die sind nicht repräsentativ für uns alle in der Schweiz, sondern schlussendlich für sich selber. Und das ist eine Gruppe, die wesentlich älter ist als die normale Bevölkerung. Der durchschnittliche Urnengänger ist etwa 60 Jahre alt oder drüber zur Hälfte. Und genau diese Personengruppe ist eben nicht Mieter oder vielleicht deutlich weniger Mieter, sondern ist Wohneigentümer und hat entsprechend ein anderes Interesse, das sichtbar zur Abschaffung des Eigenmietwerts führen kann.
Lukas
Gehen wir in die grossen Trends, die auch noch auf uns zukommen können. Und wir haben es eben so gespürt, das Polarisierungsthema schwebt ein bisschen über allem und mein Eindruck ist, Polarisierung ist zunehmend ein Problem, auch in der Schweiz, vor allem zwischen jungen Männern und jungen Frauen.
Cloé
Ich glaube, das wird ein riesiges Thema. Das ist ein bisschen der Elefant im Raum bei fast jeder Studie, die wir machen, wenn es um gesellschaftliche Prioritäten und Bedürfnisse geht. Im Sorgenbarometer sehen wir zum Teil krasse Unterschiede in den Prioritäten und in der Lesweise der aktuellen Situation zwischen jungen Frauen und jungen Männern. Und das kann sein, das weiss man natürlich nicht so recht, wie sich das entwickeln wird. In 20 Jahren findet vielleicht eine Angleichung statt, man hat wieder andere Lebensumstände, wo man vielleicht eine Familie gegründet hat und dann wieder eine gemeinsame Sichtweise auf die Welt entwickelt. Aber wenn es so weitergeht und sich die Differenz, die wir jetzt sehen, auch quasi in die Zukunft hinzieht, dann habe ich das Gefühl, gibt es noch viel mehr Abstimmungen, wo Männer und Frauen auf unterschiedlichen Seiten stehen. Es gibt viel mehr Themen, wo irgendwie die eine oder andere Seite sich aussen vorgelassen fühlt und wo es dann eben sehr viel stärker in Richtung von einer affektiven Polarisierung geht, wie Urs gesagt hat. Bis hin zu «Warum sollte man überhaupt noch mit anderen reden?» «Wieso sollte ich überhaupt noch einen Mann suchen und eine Familie gründen? Bringt's doch überhaupt nicht.» Und da sehe ich schon ein rechtes Potenzial für gesellschaftliche Spannungen.
Urs
Es gibt grosse Studien aus den USA, die genau das aufzeigen, dass gerade diese affektive Polarisierung, also wirklich der Wille zur Spaltung und nicht mehr auseinanderzusetzen, eine Geschlechterfrage ist. Es ist ein bisschen stärker im städtischen Umfeld tatsächlich bei Frauen, die das stärker zum Ausdruck bringen, wo dass Grenzen sind, wo sie nicht bereit sind, sich auf andere Meinungen einzulassen. Männer sind auch gerade in den USA dort etwas entspannter, in den politischen Meinungen extrem, aber in Bezug auf die Bereitschaft, mit anderen zu reden, entspannter. Man sieht es sogar in der Schweiz, in dieser Studie, die du angesprochen hast, "Wie geht's Schweiz?" gibt's eine Mehrheit, auch bei Frauen, die sagen, sie seien nicht mehr bereit oder nicht bereit, mit anderen Personen, mit anderen Meinungen zu reden oder auszutauschen. Aber die Unterschiede sind gigantisch. In der Schweiz sind wir nicht die heile Welt, aber wir haben genau das Element, die Spaltung, so weit treibt, dass man nicht mehr bereit ist, mit dem Gegenpart zu reden, ist in der Schweiz wesentlich weniger.
Cloé
Es geht ja nicht nur ums Reden dort, sondern es geht um die eigenen Grenzen und dort finde ich es auch wichtig, dass man irgendwie auch sagt, die Realitäten muss man vielleicht auch gerade als Frau mehr reindrücken, weil das ist vielleicht eine Stimme, die auch ein bisschen zu wenig gehört worden ist, wäre jetzt meine Meinung, aber vielleicht bin ich da schon tief in der affektiven Polarisierung.
Lukas
Gehen wir zum zweiten Thema, das ich als Roundup für dieses Jahr und als Ausblick für das nächste möchte. Die Schweiz ist ausserpolitischer, als sie eigentlich sein möchte.
Cloé
Ich glaube, man kommt gar nicht drum herum. Im Moment ist man wie ein Ping-Pong-Ball, der zwischen den Schlägen hin- und hergeworfen wird. Und irgendwo musst du am Schluss landen, auf der einen oder anderen Seite des Netzes. Die Frage ist eben, wem unterwirft man sich jetzt? Der USA oder Europa? Oder gibt es überhaupt noch eine neue geopolitische Situation? Ich glaube, man kommt nicht drum herum. Neutralität ist ein gutes Label, aber schwierig zu umsetzen.
Urs
Ich glaube, wir kommen nicht drum herum, aber ich würde es noch ergänzen mit, wir haben historisch gewachsen, die schlechtesten möglichen Werkzeuge auch politisch, um das zu machen. Bis in weit in dir 70er Jahre war Aussenpolitik einfach Wirtschaftspolitik. Wir haben höchstens über Zoll geredet, ein bisschen über Wirtschaftsdiplomatie, oft auch von Wirtschaftsvertretern gemacht. Und wir haben erst so in den 80er-, 90er-, Nuller-Jahren begonnen eine Aussenpolitik zu leben, die mehr ist als reine Wirtschaftspolitik. Und unterdessen, da gebe ich dir absolut recht, sind alle Probleme bei weitem nicht nur wirtschaftliche Probleme, auch die internationalen Herausforderungen nicht. Und wir haben zum Glück wenige Jahrzehnte Zeit gehabt, das zu entwickeln, aber wir haben keine Tradition dafür. Und sobald die Politik mehr macht, als Wirtschaftspolitik gibt es sofort rechtskonservativ harten Widerstand gegen das, was vermutlich auch mit dieser Geschichte, wie sie sich in der Schweiz entwickelt hat, Kantone, die nicht wollten, dass der Bund im Ausland so tut, als wäre er der Chef, nicht ein Gefühl, eine Kultur entwickelt hat, um genau diese Herausforderungen anzugehen.
Cloé
Darum schicken wir auch jetzt Wirtschaftsunternehmer mit Goldbarren und goldenen Uhren.
Urs
Das schliesst sich tatsächlich in der Kreis tatsächlich in die 50er-Jahre zurück. Das ist so, ja.
Jenny
Ich finde, du hast vorher noch einen spannenden Punkt aufgebracht. Neutralität ist einer der Kernfaktoren, wenn man die Leute fragt, was die Schweiz ausmacht. Das ist auch weiterhin, gemäss der ETH-Sicherheitsstudie, gar keine Diskussion, dass man das in Zukunft anders sieht. Ein Punkt, den ich aber sehr spannend fand mit dieser Studie, ist, dass man mittlerweile grössere Mehrheiten von Leuten hat, die offen wären für eine sogenannte differenzielle Neutralität. Also es geht darum, eben insgesamt sind wir als Land immer noch neutral, aber dass vielleicht eben aufgrund von diesen machtpolitischen Veränderungen international kommt man gar nicht drum herum, um jetzt bei nicht militärischen Konflikten, aber sonstigen politischen Konflikten international vielleicht doch mehr Stellung zu beziehen, als wir es bis jetzt gemacht haben, oder in der Schweizer Tradition zumindest.
Lukas
Neutralität ist in sich fast ein Widerspruch in der heutigen vernetzten Welt. Da sind wir schon wieder mitten in den politischen Themen, die als Initiative auf uns zukommen. Letzte These, Kosten werden oder sind ein Megatreiber, sei es im Gesundheit, im Klima, beim Wohnen. Das prägt auch das Bild der Schweizer Innenpolitik.
Cloé
Ja, es gibt gewisse Leute, die sagen, wir erleben gerade ein Revival des Klassenkampfs. Das ist natürlich jetzt sehr in einer alten Rhetorik verankert, aber ich glaube, im Grundsatz ist das schon so. Die ökonomische Achse wird wichtiger. Ich glaube, die Frage, welche Wirtschaftsformen wir haben wollen und was ist... sinnvoll für die Gesellschaft als Ganzes ist etwas, das umtreibt. Wir haben jetzt gerade über die Erbschaftsteuer abgestimmt. Es ist zwar ziemlich klar bachab geschickt worden, aber kaum einen Tag später sind schon die nächsten Ideen diesbezüglich auf dem Tapet. Ich glaube, die Frage, wie wir die Wirtschaft gestalten wollen und wer hat was abzuliefern und wo wird umverteilt, das bleibt definitiv ein Thema.
Urs
Ich habe den Eindruck, das ist das grosse Thema '26, ergänzt mit dem, was du sehr schön gesagt hast, mit dieser Diskussion über, was sind wir in der Welt, was für Kooperationen können und wollen wir eingehen, unsere internationale Rolle, die wir neu definieren müssen und in genau diesen Gemengelage wird die Diskussion von den nächsten zwei oder drei Jahren hart bestimmen.
Lukas
Ja, dann sind wir gespannt, wie diese Prozesse weitergehen, Cloé Jans, Urs Bieri, danke vielmals für euren Besuch, wir erwarten ein spannendes 2026. Hat dir die Diskussion, neben allen Widersprüchen, die wir versucht haben zu erkennen, hat es dir auch ein bisschen Hoffnung gegeben?
Jenny
Ja, wir müssen uns nichts vormachen. Ich glaube, es sind viele Herausforderungen, die jetzt kommen werden. Sei es international, sei es innenpolitisch, gerade die ganze Kostenfrage. Ich denke, wenn man etwas Hoffnung gibt, ist es tatsächlich in dieser langjährigen Tradition der Konkordanz in der Schweiz. Also, dass man halt im Gegensatz zu gerade einer USA zum Beispiel... noch immer versuchen, mit allen verschiedenen Akteuren zu reden und dass das hoffentlich auch in Zukunft ein Weg bleiben wird, dass wir als Gesellschaft nicht zu polarisiert werden und auch noch mehrheitsfähige Lösungen finden.
Lukas
Ja, bei mir bleibt die Hoffnung wegen der direkten Demokratie, das hängt auch ein bisschen zusammen mit der Konkordanz, dass wir eigentlich immer wieder eine Rückkopplung zwischen Volk und Elite haben und dadurch, wenigstens im internationalen Vergleich, das Vertrauen auch gerade im Bundesrat noch einigermassen intakt ist.
Jenny
Das ist so. Und wer es genauer wissen möchte, alle Details zu den genannten Studien findet ihr hier unten in der Beschreibung.
gfs.echo #06, Jahresend-Special: Kostensorgen und Vertrauenskrise – warum das Sicherheitsgefühl in der Schweiz wankt
gfs.echo #05, Zu viel Vorschriften, zu wenig Zeit für Patient:innen? FMH-Präsidentin Yvonne Gilli über Bürokratie & Digitalisierung
Veröffentlicht am: Dauer:
Bürokratie frisst Zeit, die eigentlich den Patient:innen gehören sollte. Gleichzeitig sollen DigiSanté, neue Tarife und die Ambulantisierung das System effizienter machen – in einem Umfeld, in dem der Ärztemangel immer spürbarer wird. FMH-Präsidentin Yvonne Gilli spricht Klartext über Mikroregulierung, digitale Versprechen, Fehlanreize und die Frage, was es braucht, damit Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf auch in Zukunft sinnvoll ausüben können.
In der Folge erwähnte Studien:
Transkript gfs.echo #05
Lukas
Herzlich willkommen zu gfs.echo, dem Podcast von gfs.bern, der die wichtigen Themen des Sorgenbarometers aufnimmt. In dieser Staffel geht es um das Gesundheitswesen. Und heute ein Thema, das ganz tief ins Gesundheitswesen geht, nämlich Bürokratisierung. Jenny, Bürokratisierung ist sicherlich für die Ärzteschaft ein ganz grosses Thema. Du hast ein wenig reingeschaut in die letzte FMH-Begleitforschung. Was ist dort herausgekommen?
Jenny
Ja, es ist auf jeden Fall ein Thema. Zum Beispiel geben in der praxisambulanten Ärzteschaft die Leute im Schnitt an, dass sie fast eine Stunde pro Tag damit verbringen, Vorgaben von Behörden und Versicherungen einzuhalten. Das ist doch ein relativ beträchtlicher Anteil des Arbeitsalltags. Das sind so Geschichten ... wie Anfragen bei der Rechnungsstellung oder auch Berichte für Erwerbsausfallversicherungen. Gleichzeitig ist es natürlich so: Die Versicherungen unterliegen selber auch verschiedenen behördlichen Vorgaben. Darum ist es nicht nur ein Problem von einzelnen Prozessen, sondern wirklich insgesamt ein Problem des Systems mit dieser Bürokratisierung.
Lukas
Ja, schauen wir einfach in das System hinein. Und da haben wir die bestmögliche Gästin, auch die oberste Ärztin der Schweiz, die aber eben selber auch im ambulanten Bereich lange als Ärztin tätig war. Herzlich willkommen, Yvonne Gilli. Wir haben in diesem Bereich der Bürokratisierung recht viel Kritik im Umfeld der FMH. Sie sprechen von fortschreitender Mikroregulierung und dysfunktionaler Bürokratie. Was sind die Probleme mit dieser Bürokratisierung für die Ärzteschaft?
Yvonne
Ja, die sind natürlich ganz vielschichtig. Also das eine ist der Arbeitsaufwand. Also: Was gibt es für Schreibarbeiten oder für Abfragearbeiten zu machen, die man nicht als sinnvoll anschaut im Hinblick auf die Kerntätigkeit? Also das heisst Behandlung, Diagnosestellung, Begegnung mit dem Patienten und der Patientin. Und das hat natürlich zugenommen in den letzten 20 Jahren, bis hin dazu, dass eben ein zu grosser Teil der Arbeitszeit dann auch ineffizient verbracht wird, weil wir ja auch zu wenige Ärzte und Ärztinnen haben. Und dazu gehören zum Beispiel Versicherungsanfragen. Und Ärzte und Ärztinnen reagieren in der Regel auch ganz negativ, wenn das Wort fällt. Es ist aber so, wie es auch schon gesagt wurde: Auch Versicherungen werden kontrolliert, und das heisst, vieles, was in der Gesetzgebung eben an Rahmenbedingungen festgehalten ist und nachher im Detail in der Verordnung geregelt wird, das schlägt dann eben über die Versicherer letztendlich an das Endglied der Kette zurück, und das ist dann der Arzt oder die Ärztin, die dann diese Arbeiten erledigen muss und oft gar nicht merkt, dass das im Hintergrund einen ganz anderen Anfang hatte und die Versicherung auch nur ein Zwischenglied ist dazwischen. Also ein Beispiel sind begrenzte Zulassungen von Medikamenten. Also ich nehme jetzt ein Beispiel von einem Betäubungsmittel, weil mir das jetzt einfach gerade spontan einfällt: Leute, die an einem Hyperaktivitätssyndrom erkranken – und das wächst sich ja nicht einfach aus –, die haben als Kinder eine Diagnose und brauchen dann als Erwachsene oft Medikamente wie Ritalin, das bekannteste, eben situativ immer noch. Und dann kommt eine Kostengutsprache, eine Anfrage von der Krankenkasse: Können Sie uns dokumentieren, dass diese Diagnose schon in der Kindheit gestellt wurde? Und wenn es dann auch noch nicht gerade Ritalin ist, sondern ein neueres Medikament, also eine jüngere Generation von ähnlich wirksamen Medikamenten, dann muss man auch noch begründen, warum man nicht ein Medikament der ersten Generation gibt, sondern ein Medikament der zweiten Generation. Und das sind Aufwände, die eigentlich die ärztliche Expertise übersteuern, und die schauen wir nicht als sinnvoll an. Das ist jetzt ein einziges Beispiel dazu, aber ich würde gerne ein bisschen anschaulich bleiben.
Lukas
Ja, nein, tiptop. Wenn ich dich richtig verstehe, ist die Ärzteschaft sehr schnell kritisch, wenn es Nachfragen der Krankenkassen gibt. Also Kostengutsprache als Beispiel, auch wenn man zum Beispiel Rehabilitation möchte oder so. Das ist offenbar schon etwas, wo man sehr rasch das Gefühl hat, die Krankenkassen wollen einfach bürokratisieren. Aber wenn ich dich richtig verstehe, ist im Prinzip dahinter die Mikroregulierung, die du eben so anprangerst.
Yvonne
Genau, es ist Mikroregulierung. Also Krankenkassen werden dann eben auch geprüft, die kommen wirklich an die Kassenstellen und schauen, ob sie bei der Verschreibung dieser Medikamente wirklich eine Kostengutsprache eingeholt haben oder ob sie die nicht eingeholt haben. Also es ist wirklich nur das Endglied der Kette. Ärzte und Ärztinnen sind skeptisch gegenüber Versicherern, natürlich noch aus einem anderen Grund. Und das hat manchmal mit dem Arztgeheimnis oder mit der Schweigepflicht gegenüber einem Patienten oder einer Patientin zu tun. Man will versicherungsrechtlich und darf auch versicherungsrechtlich nur genau die Auskünfte an einen Versicherer weitergeben, die er wirklich auch braucht, um seine Arbeit zu erledigen und wozu er auch berechtigt ist. Und sonst wird der Arzt oder die Ärztin strafrechtlich belangt. Und das heisst, es gibt eine Hemmung im Kontakt zwischen den Versicherern und den Ärzten und Ärztinnen.
Jenny
Ein Punkt, der mir in der Begleitforschungsstudie sehr fest aufgefallen ist, ist die Dokumentationsarbeit, die man zu Abrechnungszwecken macht. Über die Jahre hinweg gibt die Ärzteschaft in grosser Mehrheit an, dass bei ihr seit einigen Jahren der Eindruck entsteht, dass der Aufwand immer mehr wird. Also eigentlich schon seit einiger Zeit entsteht immer stärker der Eindruck, es wird mehr und mehr. Jetzt aus Sicht der FMH: Was müsste am dringendsten passieren, um so einen langjährigen Trend endlich mal umzukehren?
Yvonne
Was wir natürlich versuchen, ist, wirklich am Anfang zu schauen. Der Gesetzgeber hat in den letzten zehn Jahren eine riesige Dynamik entwickelt, etwa 44 KVG-, Krankenversicherungsgesetz-Revisionen. Auf jede folgt dann auch eine Verordnung, und jede wirkt sich wieder ganz direkt auf die Arbeitstätigkeit aus. Das heisst, man muss wirklich zurückgehen, auch bei den Rahmenbedingungen für die Gesellschaft gegenüber den Ärzten und Ärztinnen, und wirklich nur die Rahmenbedingungen festlegen und nicht ins letzte Detail gehen. Es gibt jetzt gerade wieder ein Gesetz in der Revision, das ist das Epidemiengesetz als Learning von Covid. Dort hat man sich zum Beispiel überlegt, ob man Ärzte oder Ärztinnen verpflichten soll, dass sie rechtfertigen müssen, wenn sie ein Antibiotikum verschreiben, oder dass sie eine spezifische Fortbildung machen müssen, damit sie überhaupt noch in Zukunft ein Antibiotikum verschreiben dürfen. Wir haben in der Schweiz in der Kultur ein Vertrauensprinzip. Das heisst, wir schauen, dass die Leute gut ausgebildet sind und dann fähig sind, ihre Arbeit auch qualifiziert zu machen. Und dem widerspricht natürlich eine Mikroregulierung, die einem Arzt oder einer Ärztin nicht mehr zutraut, ein einzelnes Medikament, das man dann auch im täglichen Gebrauch hat, auch selbstständig zu verschreiben.
Lukas
Wenn wir über Effizienz reden, die ja quasi auch eine Antwort auf Bürokratisierung ist, dann hat man manchmal – in den letzten, sagen wir, schweren Diskussionen über das EPD und darüber, dass es nicht vom Fleck kommt – den Eindruck gewonnen, dass die Ärzteschaft nicht nur beschleunigt, sondern manchmal auch ein bisschen bremst. In der Strategie ist das ganz anders. Die setzt eigentlich auf Digitalisierung. Ist da ein neuer Wind bei der Ärzteschaft, oder ist es jetzt besonders wichtig, dass wir in diese Richtung gehen?
Yvonne
Wir sind einfach in einer digitalen Gesellschaft, und das hat Vorteile und Nachteile. Wir unterscheiden natürlich: Für uns ist Digitalisierung ein Instrument. Wie wenn ich ein Stethoskop oder einen Blutdruckapparat brauche oder ein EKG-Gerät, brauche ich Digitalisierung, damit sie mir bei der Arbeit hilft. Und es ist eigentlich mittlerweile unbestritten über fast alle Fachrichtungen, dass man die Krankengeschichte von Patientinnen und Patienten elektronisch führt. Das hat natürlich auch Vorteile, weil, wenn man andere Dienste wie Abfragen von Versicherern oder auch Abfragen von Behörden, zum Beispiel von meldepflichtigen Erkrankungen, gut in die Kommunikation mit der elektronischen Krankengeschichte integriert hat, dann muss man nicht ein separates Formular ausfüllen, sondern dann wird das Formular eigentlich schon vorausgefüllt über die Angaben, die man schon drin hat. Das wäre eben die effiziente Digitalisierung. Die ineffiziente ist, wenn die Systeme eben nicht miteinander kommunizieren können, weil das Spital es anders braucht als mein Spezialarzt, mit dem ich zusammenarbeite, und dessen System sich wieder von meinem unterscheidet. Und wir können nicht direkt elektronisch kommunizieren, sondern es geht manchmal so weit, dass man wirklich etwas ausdrucken muss und wieder neu einscannen und dann per E-Mail-Anhang zum Beispiel abschicken – dann auch verschlüsselt abschicken, je nachdem. Und dann wird man natürlich verlangsamt, dann ist man plötzlich viel langsamer, als wenn man noch ein Blatt Papier vor sich hat und einfach von Hand schreibt. Und mit dem waren wir eher konfrontiert in der Vergangenheit als mit dem Gewinn der Digitalisierung.
Jenny
Vielleicht eben einfach, um das positive Beispiel, das du vorher schon erwähnt hattest, wieder einzubringen mit der elektronischen Krankengeschichte. Also da hat der Bund auch Zahlen dazu. Und man hat schon gesehen, bei der letzten Erhebung 2022 führen 58% der Arztpraxen oder ambulanten Zentren schon vollständig die Krankenakte elektronisch. Vor zehn Jahren waren es erst 35%. Das ist sicher ein positives Beispiel, wo man sieht, es geht etwas in die richtige Richtung. Was sind aus deiner Sicht die Punkte, die man bei der Digitalisierung als Nächstes angehen sollte, um einerseits den Arbeitsalltag der Ärztinnen und Ärzte zu erleichtern, aber im Endeffekt natürlich auch die Versorgung der Patienten?
Yvonne
Also für uns ist es ganz wichtig, dass wir mehr strukturierte Informationen haben, also zum Beispiel einen Blutdruckwert, bei dem man wirklich genau weiss: Das ist jetzt der Blutdruckwert vom rechten Oberarm und der ist so und so viel, sodass man dann wirklich, wenn man einen Patienten oder eine Patientin überweist, diese Werte direkt in das Dokument importieren kann, das man dann braucht. Für das braucht es aber eine kodierte Sprache, damit nachher alle auch das Gleiche verstehen. Es braucht zum Beispiel eine geeignete Diagnosekodierung. Und es braucht dahinter natürlich das Gleiche auf der technischen Seite. Es braucht einen einheitlichen Standard auf der technischen Seite. Und wir haben beides noch nicht in der Schweiz. Wir haben noch keine nationalen Standards für die Inhalte und wir haben noch keine nationalen Standards bei der Technologie. Und da sind wir wirklich um Jahre hintendrein gegenüber gewissen anderen Ländern, den nordischen Ländern zum Beispiel oder den USA.
Lukas
Dort ist DigiSanté der Versuch, aufzuholen. Man spürt eine Aufbruchstimmung, man spürt den politischen Rückenwind in Richtung Digitalisierung. Das grosse Plädoyer, das jetzt so rund um das Projekt DigiSanté herrscht, ist, dass die Akteure dort voll auch mitziehen. Ist der neue Spirit da? Kann die Ärzteschaft sagen, diese Digitalisierung unterstützen wir, jetzt wollen wir voll auch mitgehen und mithelfen, eben so Standards zum Beispiel zu schaffen und zu nutzen?
Yvonne
Man muss wirklich unterscheiden, was die Ärztinnen und Ärzte wollen und was uns die IT-Provider bereitstellen. Ob diese Hürde schon genommen ist, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Für uns ist es wichtig, dass die Digitalisierung einen Nutzen bringt und die Effizienz unterstützt. Das heisst, wir wünschen uns das. Aber wir sind auch gleichzeitig abhängig von dieser Software, die uns zur Verfügung steht und uns notabene für teures Geld verkauft wird. Wir zahlen auch noch Lizenzgebühren und Schnittstellengebühren, damit wir miteinander kommunizieren können. Auf diesem Faktor sind die Ärzte schon sensibel, weil sie viele IT-Systeme in der älteren Generation noch selbst entwickelt haben, also sehr viel Geld in die IT-Entwicklung investiert haben. Danach haben sich die KMUs gebildet, die in der Schweiz die Software angeboten haben. Sie sind aber auch nicht wirklich zukunftsfähig und in einem internationalen Kontext nicht wirklich entwicklungsfähig. Diese Systeme haben die Ärzte dann wieder teuer bezahlt. Und wenn sie plötzlich den IT-Provider einfach wechseln müssen, weil es eine Strukturbereinigung gibt, die wir uns im Grunde genommen wünschen, dann zahlen sie für diesen Wechsel auch nochmals. Die öffentliche Hand hat in der Schweiz bis jetzt nie Mittel für diese Investitionen eingesetzt, und das ist ein grosser Unterschied zu allen anderen Ländern, wo die IT weiter fortgeschritten ist, weil dort wirklich die öffentliche Hand nicht nur die Standards gesetzt hat, die wir uns wünschen, sondern wirklich auch finanzielle Incentives geschaffen hat, damit man nachher auch die Instrumente genutzt hat. Und ich glaube, das braucht es in der Schweiz auch noch.
Lukas
Wenn man jetzt ein bisschen visionär sein möchte, wäre das fast das Plädoyer, zu sagen, jetzt ist der Moment, mit dieser Lösung, die da vorbereitet wird, mitzuziehen und dann auch bereits Bereitschaft zu entwickeln, wirklich zu wechseln oder in ein neues System zu investieren, statt dass quasi Zug um Zug jetzt eben die ganzen Akteure versuchen, mehr zu digitalisieren.
Yvonne
Ja, das sehe ich genau gleich. Ich sehe natürlich auch die Demografie der Ärzteschaft. Und wenn ich auch den Ärztemangel anschaue, dann sind wir natürlich wirklich darauf angewiesen, dass Ärzte und Ärztinnen nicht mit 65 Jahren aufhören zu arbeiten, weil das die Babyboomer-Generation ist, die jetzt in Pension geht. Und wir können diese nur abfedern mit mehr Nachwuchs, wenn diese Ärztinnen und Ärzte noch etwas länger arbeiten. Und viele sind auch bereit, länger zu arbeiten, aber sie können ihre Investitionen nicht mehr amortisieren. Das heisst, hier sind wir eigentlich auf eine gewisse Grosszügigkeit angewiesen oder auch auf Übergangsregelungen, die dann nicht grosse Investitionen abverlangen.
Lukas
Dort wäre das Thema schon gesetzt: Fachkräftemangel. Ich glaube, wir können nicht über die Ärzteschaft reden, wenn wir nicht auch über den Mangel sprechen, der vor allem jetzt noch eher grösser wird. Grundversorgung ist ein riesiges Thema. Man hat jetzt bei den Studienplätzen schon gewisse Bewegungen gemerkt. Aber wenn wir jetzt mehr über die Arbeitsbedingungen reden, wo man quasi zum Beispiel die Leute motivieren möchte, vielleicht etwas höherprozentig zu sein, vielleicht etwas länger im Beruf zu bleiben, vielleicht auch mehr Verantwortung zu übernehmen, vielleicht auch bei den Frauen, von denen man weiss, dass die Karriereschritte sehr anspruchsvoll sind mit den Belastungen, stundenmässig, anstellungsgradmässig, wie man sie heute hat: Wo muss man ansetzen, damit die Arbeitsbedingungen motivierend bleiben und der Ärzte-Fachkräftemangel auch indirekt bekämpft wird?
Yvonne
Ich glaube, das ist nicht einmal so branchenspezifisch, sondern hängt eher mit der gesellschaftlichen Entwicklung und mit den Generationenbedürfnissen zusammen. Und das sagen uns eigentlich die jungen Ärzte und Ärztinnen sehr direkt. Die Bürokratie, die wir schon angesprochen haben, ist ein ganz wichtiger Ausstiegsgrund, weil sie den Sinn nicht mehr sehen in einer Arbeit, in der sie mehr dokumentieren, als sie Patientinnen und Patienten betreuen. Also man muss sie entlasten von den Arbeiten, die auch andere Berufe eigentlich übernehmen können, die nicht unbedingt der Arzt oder die Ärztin machen muss, oder ihnen die Hilfsmittel geben, die sie entlasten. Und gleichzeitig wollen sie flexiblere Arbeitsbedingungen, und sie schauen ihre Arbeit eher als Job und weniger als Berufung an. Das heisst, sie wollen auch geregelte Arbeitszeiten. Das heisst mittlerweile schon, dass man einen Arzt oder eine Ärztin, die in Pension geht, durch ungefähr anderthalb Personen ersetzen muss. Das zeigt nochmal, was für ein Bedarf da auf uns zukommt in Zukunft.
Jenny
Ja, du sprichst da verschiedene Punkte an, die auch in den Begleitforschungsstudien sehr deutlich zum Zuge gekommen sind. Also man sieht einerseits eben: Den Sinn in der Arbeit sehen die allermeisten weiterhin. Also es ist eine grosse Zufriedenheit mit den Aufgaben, die man macht als Ärztin oder Arzt in der Schweiz. Aber tatsächlich, je nach Art der Ärzteschaft, aber beispielsweise bei den praxisambulanten Ärztinnen und Ärzten, denkt rund ein Fünftel schon darüber nach, in den nächsten Jahren aufzuhören. Und da sind tatsächlich eben auch Faktoren dabei, die viel mit den Arbeitsbedingungen zu tun haben. Einerseits die langen Arbeitszeiten, das weiss man ja, dass das oft so ist im ärztlichen Bereich. Aber auch Stress, der ein grosses Thema ist, mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Einerseits hast du vorhin gesagt, wir bräuchten eigentlich fast mehr Leute, die länger arbeiten, um diesen Mangel zu decken. Gleichzeitig scheinen diese Faktoren bei den Arbeitsbedingungen doch auch eine grosse Rolle zu spielen. Siehst du da irgendeinen Weg, der Ärzteschaft entgegenzukommen, was die Bedingungen anbelangt?
Yvonne
Es gibt ja ganz unterschiedliche Arbeitsumfelder. Ein Spital ist nochmals anders als die freie Praxis. In der freien Praxis, wo viele Ärzte und Ärztinnen erst einmal angestellt sind, in einer Gruppenpraxis, merken sie nach drei, vier Jahren aber plötzlich, dass sie auch zusätzliche Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten hätten, wenn sie Teilhabende einer Praxis sind. Das heisst, man muss ihnen eigentlich die Zeit geben, man muss sie einführen, und dann ist das genau ein Arbeitsmodell, das eigentlich dann wieder besser auch Beruf und Familie vereinbaren lässt, weil man beispielsweise nicht einfach die vorgegebenen Ferien dann hat, wenn der Arbeitgeber die einem geben will, sondern weil man einfach mehr Freiraum hat, gerade wenn man eine Familie hat, zum Beispiel auch die Arbeitszeit ganz bewusst zu reduzieren während der Schulferienzeit. Das ist an Spitälern viel weniger so, natürlich auch viel weniger möglich, weil die ja andere Auslastungen haben. Auch dort braucht es aber flexiblere Arbeitszeitmodelle.
Lukas
Wir haben von den Bedürfnissen gesprochen, die sich ändern. Wir haben über die jüngeren Generationen gesprochen, Teamarbeit, andere Formen von Aufteilung, vielleicht auch andere Verantwortlichkeit. Ist da ein neues Rollenverständnis, dass man vielleicht weniger Einzelkämpferin, Einzelkämpfer ist und mehr vernetzter Gesundheitsprofi auch mit den anderen Akteuren? Ist das schon im Gang, oder sind wir noch erst am Anfang von diesem Prozess?
Yvonne
Also man ist weniger Einzelkämpfer, sodass man wirklich ganz alleine in einer Einzelpraxis arbeiten will. Das rechnet sich übrigens im jetzigen Modell auch wirtschaftlich nicht. Man braucht eine Praxis, die ungefähr 200 bis 300 Stellenprozent, also zwei bis drei Vollzeitstellen, wie auch immer die dann verteilt sind, hat, damit man überhaupt ein angemessenes Einkommen erwirtschaften kann. Da kommen wieder die Regulatorien dazu, die sind eben auch nicht gratis zu haben. Da geht es zum Beispiel um Vorschriften zum Sterilisieren oder zur Arbeitssicherheit der Angestellten. Das muss alles bezahlt sein. Auch die IT-Infrastruktur natürlich.
Lukas
Wie sieht es bei der stationären Versorgung aus? Dort ist schon mein Eindruck, dass es sehr stark noch hierarchisch ist und dass fast Fürstentümer in den einzelnen Kliniken bestehen, wo man wenig miteinander und mit der Pflege zum Beispiel arbeitet. Ist es dort noch weniger weit mit dem Team?
Yvonne
Also das Miteinander im Team, das sind sich Ärzte und Ärztinnen ja eigentlich gewohnt vom Spital her, aber mit einer sehr traditionellen Rollenverteilung und immer noch mit sehr stark ausgeprägten Hierarchien. Das Miteinander in einem interprofessionellen Bereich mit flachen Hierarchien, also eine vielleicht echtere Teamarbeit, das sind sich Ärzte in gewissen Bereichen gewohnt, wo man gar nicht anders funktionieren konnte. Zum Beispiel in der Rehabilitation oder in der Entwicklungspädiatrie, also in der Kinderheilkunde. Dort kann man gar nicht anders betreuen als im Team. Und alle anderen Ärzte sind sich dort schon noch sehr stark gewohnt, in ihrer eigenen Rolle eine grosse Verantwortung zu übernehmen und höchstens noch zu delegieren, aber wenig partizipativ auch Verantwortung abgeben zu können. Unsere Strukturen bilden das auch nicht ab. Das ist ein Kulturprojekt, und es fängt in der Ausbildung an, solange man nicht gemeinsame Ausbildungsgänge hat. Die gibt es im Ansatz, aber erst im Ansatz. An der Uni Bern hat man zum Beispiel einen teilgemeinsamen Ausbildungsgang mit Apothekerinnen und Apothekern. So werden natürlich beide Berufe von Anfang an ganz anders sozialisiert. Die merken, wie sie zusammenarbeiten können. Das wird lange brauchen und kann man auch nicht einfach übertragen aus anderen Ländern, weil auch dort sind es kulturspezifische Projekte. Ich habe selber noch in England Medizin studiert, und dort hat man ja immer, früher, Respekt gehabt vor den Nurses, weil die viel selbstständiger gearbeitet haben gegenüber dem Arzt oder der Ärztin. Also es war dort weniger hierarchisiert, aber gleichzeitig durften sie viel weniger machen als eine Pflegefachfrau in der Schweiz. Und das hat eben gezeigt, die Kulturen sind einfach unterschiedlich, und man kann nicht einfach dann sagen, weil jetzt dort das so funktioniert, kann man das jetzt einfach übertragen auf die Schweiz. Aber wir lernen ja jetzt auch, gerade im internationalen Vergleich mit den neuen Berufen, dass ärztliche Aufgaben zum Teil übernommen werden müssen, damit wir überhaupt noch sinnvoll betreuen können.
Lukas
Vielleicht auch ein Weg gegen Fachkräftemangel, eben die Hierarchiefreiheit und dass es entspannter vielleicht auch zugeht in einem Spital, wo vielleicht auch häufig halt Stress ist und es um Leben und Tod geht – das darf man nicht unterschätzen –, aber ja, das habe ich ein bisschen als Plädoyer rausgehört.
Yvonne
Ich glaube übrigens nicht, dass das den Fachkräftemangel löst. In Europa auch nicht in den Ländern, die ein anderes Verständnis von der Zusammenarbeit haben, weil man kann nicht einen Mangelberuf mit einem anderen Mangelberuf ersetzen. Aber es hilft uns natürlich in der sinnhaften Ausübung des Berufs. Und damit haben wir eben auch ganz viel gewonnen, weil wir dann sehr motivierte Leute haben, die arbeiten.
Lukas
Auch in der Pflege, ein Motiv für den Ausstieg aus der Pflege ist halt auch vielleicht die Struktur oder der Druck, den man empfindet, im Kontext einer starken Hierarchie, die vielleicht nicht mehr zeitgemäss ist. Das Kulturthema wird uns sicher weiter beschäftigen. Ein anderes aktuelles Thema ist die Abstimmung vor einem Jahr im November 2024 über die neue Form der Finanzierung. Das war im Kern eine Entscheidung der Bevölkerung, aber mit der Unterstützung der Ärzteschaft Richtung mehr ambulante Versorgung. Bringt das eine bessere Versorgung, wenn man ambulant versorgt wird?
Yvonne
Also man kann ganz viele Behandlungen heute ambulant durchführen, auch komplexe Behandlungen, auch nicht ganz gefahrlose Behandlungen, zu Hause, ambulant, in der Praxis, wo man vorher mehrere Tage oder sogar mehrere Wochen im Spital war. Und das ist eigentlich auch der Wunsch der Patienten und Patientinnen. Allein die stressfreie Umgebung, also zu Hause sein dürfen oder wieder nach Hause zu gehen, ist ein ganz wichtiger Faktor auch für eine schnellere Heilung und weniger Nebenwirkungen. Also in ganz vielen Fällen bringt das zusätzliche Lebensqualität. Und es spart natürlich enorm Kosten, und es spart eben auch Personal, weil es im Hintergrund nicht eine Infrastruktur braucht, die 24 Stunden am Tag, über sieben Tage in der Woche alles zur Verfügung stellt, wie im stationären Bereich im Spital.
Jenny
Was mir auch sehr stark aufgefallen ist in der Begleitforschung, ist, dass die Ärzteschaft in den Spitälern sagt, oder ein grösserer Teil sagt: Wir merken jetzt langsam, dass die Ambulantisierung stärker kommt. Also das fängt schon an. Gleichzeitig auffällig für mich ist, dass ein grosser Anteil, um die 40%, aktuell nicht weiss, ob ihr spezifisches Spital eine Strategie für diese ganze Umwandlung hat. Also es scheint noch viel Unwissen da zu sein. Da habe ich mir die Frage gestellt, wie kann man eigentlich am besten gewährleisten, dass auch die Ärzteschaft, die das im Alltag umsetzen muss, auf der strategischen Ebene besser informiert ist und das mittragen kann, diese fortschreitende Ambulantisierung.
Yvonne
Ja, rein von dem, was sie lehren, tragen sie es ja schon mit. Aber ich meine, man sieht ja das jetzt wieder mit dem Spital Oberengadin, das man krampfhaft versucht hat, offen zu behalten. Jetzt ist die Finanzierung entzogen. Jetzt geht es wahrscheinlich innerhalb von kurzer Zeit zu. Und damit fallen natürlich auch wieder Weiterbildungsplätze weg. Das ist eigentlich unser grösstes Thema von der ärztlichen Seite, dass wir ja, wenn wir mehr Ärzte und Ärztinnen ausbilden wollen, diese Weiterbildungsplätze brauchen – eben nicht nur an den Spitälern, sondern neu brauchen wir sie eben auch in den ambulanten Praxen, und zwar in den operativen, in den Operationszentren der ambulanten Versorgung, wie auch in den Praxen ohne Operationen, also die nicht invasiv arbeiten, die nicht operieren, also in der Medizin oder auch in der Grundversorgung. Und bis jetzt gibt es ausser in der Grundversorgung, wo auch noch ganz viel privat finanziert wird, noch gar keine öffentliche Finanzierung für die ambulanten Weiterbildungsplätze, sondern sie ist noch rein an den Spitälern angesiedelt. Und das heisst, es braucht eigentlich mehr Sensibilisierung in der betrieblichen Führung der Spitäler und in der strategischen Führung der Spitäler, dass sie weiterdenken, dass man mittlerweile auch Weiterbildungsplätze schafft, die von Anfang an kombiniert sind, im ambulanten Setting und im stationären Setting, und dass man sich dafür einsetzt, dass auch die ambulanten Plätze öffentlich mitfinanziert werden.
Lukas
Dort kommen auch sehr rasch Tarife ins Spiel, die sind nicht direkt für die Weiterbildung und Ausbildung entscheidend, aber die sind indirekt natürlich auch wichtig. TARDOC ist das Thema, wo es um die ambulanten Tarife geht, die eben auch zum Teil pauschal kommen. Dort ist die FMH offiziell mit an Bord, sagt man. Aber gewisse Stimmen sind sehr kritisch, sagen, das könne gar nicht gut kommen, das kommt jetzt unmittelbar nächstes Jahr auf uns zu. Wo stehen wir da? Muss man sich Sorgen machen, dass gewisse Versorgungsengpässe entstehen wegen der neuen Tarifsituation?
Yvonne
Ich glaube nicht, dass Versorgungsengpässe für die Patienten und Patientinnen entstehen. Es gibt vielleicht nicht so gescheite Verlagerungen, also dass etwas nicht ambulant gemacht werden kann, sondern es muss mit einer Kurzhospitalisation im Spital gemacht werden, weil es beispielsweise nicht kostendeckend erbracht werden kann im ambulanten Setting. Unsere Sorge ist, dass niemand zufrieden ist. Der Einzelleistungstarif, das ist der TARDOC. Das ist das, wie Ärzte und Ärztinnen heute im ambulanten Bereich abrechnen. Der ist eigentlich gut ausgereift, aber die Daten sind sechs Jahre alt. Also wenn Sie Infrastrukturkosten, Lohnentwicklung anschauen, Mieten anschauen, dann ist jedem von uns klar, der Tarif ist schon nicht mehr up to date. Den muss man sofort den Gegebenheiten von heute anpassen. Und das werden wir nicht so schnell schaffen. Und das ist eine recht grosse Herausforderung, weil gerade die Grundversorgung sehr unzufrieden ist, weil sie schon die letzten 20 Jahre benachteiligt war, als ihre Entschädigungen nie mehr angepasst worden sind. Und bei der Pauschale haben wir ein riesiges Problem. Es gab ja bis jetzt keine ambulante Pauschale. Das ist etwas komplett Neues. Und man hat sie rein betriebswirtschaftlich berechnet, mit Daten aus den Spitalambulatorien und ohne ärztliche Expertise. Und sie beinhalten gravierende Fehler. Die werden ja jetzt auch illustriert in den Zeitungen. Manchmal wird auch Angst gemacht davor. Ich habe nicht so Angst davor, aber es ist für uns von der FMH-Seite her teilweise auch schwierig abzuschätzen, wen das wirklich sehr gravierend auch treffen könnte, weil die ambulante Medizin ausserhalb des Spitals hoch spezialisiert ist. Also dieser Irrglaube von der politischen Seite her: Ja, eine Pauschale ist eine Pauschale, mal ist sie halt beim einen Patienten ein bisschen defizitär, dafür ist sie dann beim anderen Patienten ein bisschen gut gerechnet, und im Durchschnitt kommt dann das gut raus. Das stimmt im ambulanten Bereich nicht, weil man dort das Spektrum an Leistungen gar nicht erbringt. Und das heisst, dort läuft man Gefahr, dass dann plötzlich die Mehrzahl aller Leistungen defizitär ist. Und das können sich spezialärztliche Praxen nicht lange leisten. Die bekommen dann wirklich existenzielle wirtschaftliche Probleme. Wir halten jetzt einen sehr hohen Druck aufrecht und haben das Gefühl, es muss wirklich zuerst in der realen Welt aufprallen, bis auch unsere mitgestaltenden Akteure, also die anderen Tarifpartner wie eben die politische Seite mit dem Bundesrat und mit den Kantonen und die Versicherer, wirklich realisieren, dass wir hier noch ganz viele Fehler zu korrigieren haben. Und das unter einem grossen zeitlichen Druck. Es ist schon eine Challenge.
Jenny
Also eben, Stichwort ambulante Pauschale, das ist etwas – also über die Vergütung hast du schon vieles erwähnt –, aber in der Begleitforschung sehen wir, dass das eine der grossen Sorgen ist von der Ärzteschaft, aber auch, dass man das Gefühl hat, das führt dazu, dass man eher mal gute Risiken selektioniert und schlussendlich steht bei vielen die Befürchtung im Raum, dass es effektiv zu Qualitätseinbussen führen könnte. Was, glaubst du, müssen wir dort jetzt am ehesten machen, damit das einen Erfolg gibt?
Yvonne
Ja, gute Risiken selektionieren heisst, man behandelt dann die Patienten und Patientinnen, die kostendeckend vergütet sind, und die, die defizitär sind, die würde man dann eher an ein Spital überweisen. Das zeigt einfach, wie wichtig wirklich betriebswirtschaftlich korrekt gerechnete und sachgerechte Tarifierung ist. Diese bilden sonst sofort Fehlanreize, und zwar in beide Richtungen. Also im hochspezialisierten ambulanten Bereich wird man nicht in der Lage sein, defizitäre Leistungen zu erbringen, wenn sie einen grossen Teil der Behandlungen betreffen. Man kann nicht ausgleichen und querfinanzieren wie an einem Spital. Das ist der Bereich der Untertarifierung. Der Bereich der Übertarifierung bildet klar einen Fehlanreiz für die Behandlungsqualität, weil es eigentlich ein Mengenanreiz ist, oder das, was man eigentlich immer am TARDOC vorgeworfen hat. Das könnte sich dann bei der Pauschale ebenso fatal auswirken. Wir möchten wirklich an diesem System arbeiten. Der Vorteil ist ja, wir können jährlich korrigieren, damit wir eben möglichst schnell möglichst gute Tarife haben, weil es wirklich für die Qualität der Versorgung ganz wichtig ist.
Lukas
Der erste Schritt ist mit der Abstimmung da, einheitliche Finanzierung. Das soll ein Anreiz für die Ambulantisierung sein. Jetzt spüren wir, dass es hier schwere Baustellen gibt. Aber nicht nur das. Wenn wir mit Chancenoptik in die Zukunft schauen: Wo kann man am meisten dazu beitragen? Wir haben Fachkräftemangel. Wir haben die ganzen Tarifierungsprobleme, Ambulantisierungsprobleme. Wir haben bei der Bürokratisierung Themen, die die FMH in der Strategie bekämpfen möchte. Wo kann man am meisten Hoffnung schöpfen? Wo muss man, wo kann man etwas für die Zukunft der Ärzteschaft mitgeben?
Yvonne
Also ich bin eigentlich sehr hoffnungsvoll. Und zwar haben wir im internationalen Vergleich – und das sagen ja auch alle Leute, wenn sie ins Ausland gehen oder vom Ausland kommen – eines der bestfunktionierenden Gesundheitssysteme auf der Welt. Und es ist erst noch nicht teurer als jene, die schlechter sind in anderen europäischen Ländern. Das heisst, wir bauen eigentlich auf einem gut funktionierenden System auf. Und es gibt zwei Elemente, die für die Zukunft ganz wichtig sind. Wir müssen auf einer Vertrauensbasis weiterarbeiten. Missbrauch soll man sanktionieren, aber man soll uns nicht regulieren, weil man einfach denkt, alles, was nicht ganz genau kontrolliert ist, wird dann sowieso missbraucht. Dem ist nicht so. Wir wissen überall, dass das nicht zu einer guten Regulierung führt. Und ich glaube, wir haben noch eine Schweizer Spezialität, das ist das kooperative Modell. Also dass auch die politische Regulierung nahe an den Branchen ist. Also wir arbeiten in der Tarifpartnerschaft. Wir verhandeln zwischen der Ärzteschaft und den Unfallversicherern und den Krankenversicherern und werden uns dort einig, was jetzt der korrekte Tarif ist. Und nur wenn der nicht gut belegt ist oder dem Krankenversicherungsgesetz widerspricht, nur dann kann die politische Behörde oder der Bundesrat eingreifen. Und das schützt die Schweizer Gesundheitsversorgung ein bisschen vor einer politischen Steuerung, die dann nur noch von den quasi Reserven vom Staatsbudget abhängt. Das ist ja eine grosse Gefahr jetzt mit einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis international. Weil eine gute Gesundheitsversorgung immer teurer ist in einer Gesellschaft und das Staatsbudget immer wesentlich belastet wird, verschiebt man dann einfach vom Gesundheitssystem zum Beispiel in die Sicherheitspolitik Geld. Das heisst, man entzieht dem System Geld, und das führt sehr schnell zu einer qualitativen Verschlechterung der Versorgung. Und da ist die Schweiz eigentlich ein bisschen geschützt davor, genau wegen der Tarifautonomie zum Beispiel, also dem Verhandeln zwischen den Versicherern und der Ärzteschaft. Und ich glaube, das System sollten wir nicht gefährden. Was halt immer ein Thema ist, ist der soziale Ausgleich. Also wer bezahlt wie viel Prämie? Und das ist ganz klar, finde ich, eine politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich jeder Haushalt eigentlich auch Prämien leisten kann.
Lukas
Eine Berufsgruppe, die jeden Tag viel Verantwortung trägt, jeden Tag aber auch viele Herausforderungen hat. Das haben wir jetzt mitgenommen. Vielen Dank für diesen Besuch, Yvonne Gilli. Und du, Jenny? Hast du irgendwo auch Zuversicht, dass man an Sachen anpacken kann, damit die Ärzteschaft auch in Zukunft in genügender Zahl mit genügender Motivation in der Schweiz ihre Leistung bringen kann?
Jenny
Ja, das ist für mich sicher auch aus dem Gespräch heraus einerseits der Punkt mit den Arbeitsbedingungen. Da haben wir darüber geredet. Ich habe das Gefühl, da muss sich doch noch einiges bewegen. Aber wir haben es auch gesehen, grundsätzlich ist die Ärzteschaft sehr motiviert und hat Freude an ihrer Aufgabe. Darum hoffe ich, dass wir da gute Rahmenbedingungen haben werden in Zukunft, damit das so bleibt. Ja, ich denke, ich habe grundsätzlich eine Zuversicht, was endlich mal die Bewegung in der ganzen Tarifdiskussion anbelangt. Aber wir sehen ja auch, dass es dort noch lange nicht fertig ist und dass es verschiedene Anpassungen brauchen wird, damit es ein Erfolg wird. Ja, aber ich hoffe sehr, dass es dadurch bald bergauf geht.
Lukas
Und ich erhoffe mir natürlich viel unter dem digitalen, partizipativen Kulturwandel, der angetönt wurde. Ja, spannend. Bleiben wir dran.
Jenny
Yes, und wer es genauer wissen möchte, alle genauen Resultate zu den FMH-Begleitforschungsstudien findet ihr unten in der Beschreibung.
gfs.echo #05, Zu viel Vorschriften, zu wenig Zeit für Patient:innen? FMH-Präsidentin Yvonne Gilli über Bürokratie & Digitalisierung
gfs.echo #04, Novartis Schweiz-CEO David Traub: «Pharma-Forschung ist ein Hochrisiko-Geschäft»
Veröffentlicht am: Dauer:
Wie viel Pharma braucht die Schweiz – und zu welchem Preis? Lukas Golder und Jenny Roberts sprechen mit David Traub, CEO von Novartis Schweiz, über Kritik an Medikamentenpreisen, lange Wartezeiten auf neue Therapien, Innovationsdruck und politische Regulierung. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Interessen von Patient:innen, Öffentlichkeit, Politik und Industrie überhaupt austarieren lassen – und was das für die Zukunft des Gesundheitsstandorts Schweiz bedeutet.
Im Podcast zitierte Studien:
Transkript gfs.echo #04
Lukas
Herzlich willkommen bei gfs.echo, dem Podcast von gfs.bern, wo wir die drängendsten Probleme gemäss Sorgenbarometer beleuchten, in dieser Staffel Gesundheitspolitik. Heute haben wir einen ganz besonderen Akteur zu Gast, nämlich die Pharmaindustrie. Eine Pharmaindustrie, die nicht den einfachsten Stand in der öffentlichen Meinung hat.
Jenny
Das ist so, ja. Aus dem Gesundheitsmonitor unter anderem wissen wir, dass die Stimmbevölkerung einerseits Pharma als sehr wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Schweiz anerkennt, als wichtigen Arbeitgeber. Gleichzeitig gibt es auch verschiedene Herausforderungen, gerade so im Bereich Medikamentenpreise und grundsätzlich Kosten im Schweizer Gesundheitswesen. Das ist etwas, was viele Leute beschäftigt.
Lukas
Ja, zu Gast ist der CEO von Novartis Schweiz. Herzlich willkommen, David Traub.
David
Merci viel Mal.
Lukas
Jenny hat es schon etwas angekündigt, das ist eine relativ komplexe Rolle. Auf der einen Seite wäre die Einstiegsfrage in einem Satz, wo die Pharma heute steht und was die grössten Herausforderungen sind, wenn wir über die Schweiz und das Gesundheitssystem sprechen.
David
Ja. Die Schweiz und ihre Pharmaindustrie war eine einmalige Erfolgsgeschichte über die letzten Jahrzehnte. Im Moment würde ich sagen, wir stehen im Prinzip nach wie vor an einem starken Ort, was den Wirtschaftsfaktor angeht, was die Zusammenarbeit im Ökosystem angeht. Aber wir sind natürlich unter Druck und das betrifft am Schluss nicht nur uns als Pharmaindustrie, auch vor dem Hintergrund der jüngsten internationalen Entwicklungen, sondern wir machen uns grosse Sorgen um einerseits den Wirtschaftsstandort, aber was mich persönlich noch mehr beschäftigt, ist die Versorgung von Patientinnen und Patienten in der Schweiz mit modernen Medikamenten. Die hat sich verschlechtert in den letzten Jahren. Und wenn wir sehen, was jetzt international passiert, dann besteht tatsächlich das Risiko, dass sich die Erosion noch deutlich beschleunigen könnte.
Lukas
Also innenpolitisch und aussenpolitisch viel zu diskutieren. Und irgendwo hat man bei der Pharma immer wieder das Herzstück, eben die innovativen Therapien, gerade bei der forschenden Pharmaindustrie, wo man darüber spricht. Jetzt ist aber in letzter Zeit oft Kritik gekommen, dass es eigentlich nur noch kleine Schritte sind, fast Pseudo-Innovationen, wo man aber einen sehr hohen Preis dafür verlangt. Ist dieser Fortschritt in den letzten Jahren ein bisschen abgedämpft worden? Ist gar nicht mehr so viel möglich? Ist die Zitrone ausgepresst?
David
Ich bin froh, dass Sie mir diese Frage stellen, weil ich muss sagen, ich sehe das diametral anders. Ich bin selber Arzt, ich habe bis vor 20 Jahren in der Klinik gearbeitet. Und ich muss sagen, wenn ich jetzt zurückschaue, in den frühen 2000er Jahren, als ich im Kantonsspital Liestal als Assistenzarzt unterwegs war, im Vergleich zu heute, es gibt eine enorme Anzahl von Krankheiten, die sich gar nicht mehr gleich manifestieren, für Patienten gar nicht mehr die gleiche Bedeutung haben, wie zu seiner Zeit. Wenn ich Ihnen ein paar Beispiele nennen sollte, einfach um konkret zu werden. Von potenziell tödlichen Erkrankungen wie Krebs oder HIV, viele Krebsarten von HIV ganz zu schweigen, chronisch behandelbar, man kann damit leben. Chronische Erkrankungen wiederum von Hepatitis C über Multiple Sklerose über diverse Autoimmunkrankheiten bis zu Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nicht mehr die gleichen Erkrankungen heute für Patienten, wie sie es vor 20 Jahren waren. Alles, was ich vor 20 Jahren gelernt habe, ist im Prinzip vollkommen obsolet und das ist zu einem grossen Teil eine Konsequenz von den enormen Fortschritten, die die Pharma-Forschung in den letzten 20 Jahren gemacht hat und weitermacht. Die einzelnen Schritte sind manchmal gross und manchmal sind sie begrenzt, das ist klar, aber in der Summe ist es enorm, was wir erreicht haben. Darüber hinaus muss ich auch sagen, in diesen 20 Jahren sind die Medikamentenkosten als Anteil des gesamten Gesundheitssystems konstant geblieben, immer bei 12% in der Schweiz, was übrigens im internationalen Vergleich relativ tief ist. Das heisst, wir haben den ganzen Fortschritt, die ganzen Revolutionen in der Medizin, in den verschiedenen Erkrankungen, eigentlich bekommen, ohne dass es dadurch zu einer Explosion der Kosten gekommen wäre. Ich muss sagen, darauf dürfen wir auch stolz sein.
Jenny
Ein Punkt noch zur Innovation, wo mich deine Meinung sehr wunder nehmen würde, weil es auch etwas ist, was der Bevölkerung sehr kontrovers angeschaut wird, ist das Verhältnis zwischen dem Gewinn, das es natürlich braucht, um die Innovationen finanzieren zu können, aber gleichzeitig auch das Gefühl der Stimmbevölkerung, dass es nicht mehr so in einem guten Verhältnis zueinander steht. Der Gewinn einerseits und auch die Notwendigkeit, um das in die Innovationen investieren zu können. Wie würdest du das einschätzen?
David
Das ist auch eine super Frage. Darf ich kurz ausholen, weil ich glaube, es gibt zwei, drei Punkte, die in diesem Zusammenhang relevant sind. Das eine ist vielleicht die Frage, macht die Pharma zu viel Gewinn? Wenn wir jetzt die Industrie insgesamt anschauen, dann ist die Profitabilität der Pharmaindustrie auf dem gleichen Level wie andere Hightech-Industrien, wie Hardware, Software, ist deutlich niedriger als zum Beispiel der Energiesektor. Oder Alkohol und Tabak übrigens sind auch deutlich profitabler. Also es ist nicht so, dass die Pharma jetzt völlig raussticht. Und es ist auch klar, dass das nicht so sein kann, weil wenn es so wäre, dass wir viel zu profitabel wären, dann dürften unsere Aktienkurse eigentlich nur eine Richtung haben und das ist aufwärts. Das ist nicht so. Und warum ist das nicht so? Das ist der zweite Punkt. Pharma-Forschung ist ein Hochrisiko-Geschäft. Ich war im Raum in den 20 Jahren, in denen ich in der Industrie war, wo man sich entschieden hat, ein Entwicklungsprogramm aufzusetzen für eine Krankheit, wo man schon lange etwas gesucht hat, immer wieder gescheitert ist. Man hat die Erfolgswahrscheinlichkeit von 7% gegeben und das Entwicklungsprogramm hat aber 1,5 Milliarden Franken gekostet. Immer wieder stehen wir an einem Punkt, an dem wir sagen, wir müssen auch mal die grossen Risiken eingehen können. Nur eins von 14 Medikamenten schafft es am Schluss auf den Markt. Kosten von 2 bis 4 Milliarden Franken im Schnitt pro neues Medikament. Das muss sich auch wieder lohnen, sonst stoppt dieser Innovationsmotor. Und der letzte Punkt, den ich dazu anbringen möchte, ist gerade konkret für die Schweiz. Die Pharmaindustrie investiert 9 Milliarden Franken jedes Jahr allein in diesem Land. Für uns, für unsere 9 Milliarden global bei Novartis etwa die Hälfte davon allein in der Schweiz. Wenn man sieht, was wir an Steuern zurückgeben ins System, dann ist eigentlich jeder Franken, den man für ein patentgeschütztes Medikament ausgibt, kommt mindestens dreieinhalb Franken wieder zurück an die Gesellschaft, ans System, an den Staat. Das ist eigentlich eine hervorragende Investition. Nicht nur, und das ist, wenn man selbst ausblendet, dass Patienten bessere Therapiemöglichkeiten bekommen, als sie es früher hatten.
Lukas
Du hast es angetönt, du machst dir Sorgen um die Rahmenbedingungen, du hast die Schweiz angetönt, was ihr auch zurückgeben wollt, zum Beispiel auf der Ebene der Steuern. Die Rahmenbedingungen sind aber zum Teil jetzt ein bisschen lautstärker unter Druck gekommen. Man hat von der Pharmaindustrie lautstarke Forderungen gehört. Reden wir über die Innenpolitik, reden wir über das, was eher auf dem Spielfeld der Schweiz läuft. Dort ist die Kostendämpfungsmassnahme 2, dort ist auch die Stimme laut geworden, es sei eine Art wie eine Strafsteuer auf Innovation. Wo liegt dort das Problem?
David
Also wenn man jetzt ein bisschen zurückschaut, wir hatten in den letzten fünf Jahren sechs Kostensenkungsinitiative und Kostendämpfungspakete, die durch das Parlament gegangen sind. Eigentlich immer mit einem starken Fokus auf die innovativen Medikamente. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, wir sind alle Teil von diesem System, wir haben auch eine Verantwortung dafür zu schauen, dass die Kosten unter Kontrolle bleiben im Gesundheitssystem. Aber wir tragen jetzt als Konsequenz von diesen verschiedenen Initiativen, zum Beispiel allein durch die wiederkehrenden regelmässigen Preisüberprüfungen, als einzige Akteurin im Schweizer Gesundheitssystem regelmässig zur Kostendämpfung bei. Jedes Jahr werden dadurch allein anderthalb Milliarden Franken wieder zurück ins System gespült. Dass das Thema wichtig ist und dass wir schauen, dass wir Kostenkontrollen im System haben, da bin ich absolut einverstanden. Das kann ich nachvollziehen. Ich verstand auch, dass alle Akteure in diesem System vor diesem Hintergrund unter Druck stehen. Jetzt muss man aber schauen, wo wir im Moment stehen. Über die letzten fünf, sechs Jahre hat sich der Zugang zu modernen Medikamenten in der Schweiz bereits dramatisch verschlechtert. Und das wird gar nicht so wahrgenommen. Aber wenn man schaut, was auf der Spezialitätenliste landet, das heisst wirklich für jeden Patienten frei verfügbar ist, egal bei welcher Versicherung man ist, dann sind nur noch etwa die Hälfte der neu zugelassenen Medikamente tatsächlich auch für jeden Patienten verfügbar in der Schweiz. In Deutschland schaffen sie es auf 93%. Wir sind im Moment schon, vor den ganzen Verwerfungen, über die wir nachher sicher noch reden werden, etwa auf dem Niveau von Bulgarien, was die Erstattung von neuen, innovativen Therapien angeht. Das besorgt mich aus einer Perspektive als Arzt, als Bürger, aber natürlich auch als Vertreter der Pharmaindustrie. Das hat auch Konsequenzen auf den Wirtschaftsstandort in der Schweiz.
Jenny
Um diesen Punkt aufgreifen, den du mit den Wartezeiten für die Zulassung aufbringst. Es gibt eine internationale Studie dazu, sogenannte Wait Surveys, die genau die Punkte zwischen verschiedenen Ländern beschreibt. Ich habe mir die Studien angeschaut. Die Schweiz schneidet eigentlich immer in den vorderen Plätzen ab, je nachdem, welches Kriterium man genau anschaut. Was für mich herausgestochen ist, also wirklich konstant besser schneidet in diesem Sinne immer nur Deutschland ab. Und gleichzeitig weiss man, dass im deutschen System das auch zu höheren Kosten führen kann. Darum würde es mich sehr wundern, zu wissen, ist das deutsche Modell in diesem Sinne überhaupt etwas, das wir anstreben sollten jetzt für die Schweiz. Wie siehst du das?
David
Zum einen ist es sicher so, wenn wir jetzt bisherige Trends im Schweizer System anschauen, dann kann es so nicht weitergehen. Wir brauchen neue Lösungen. Es braucht ein robustes System bei uns, um Preise festzusetzen, um den Mehrwert von neuen Medikamenten möglichst objektiv zu bewerten und auch entsprechend Preise zu definieren. Wir können nicht so weitermachen wie bis jetzt, weil sonst leiden am Schluss die Patienten und das ganze System darunter. Sie fragen jetzt nach dem deutschen System. Ich habe tatsächlich ein paar Jahre im deutschen System gearbeitet und das deutsche System ist natürlich auch nicht perfekt. Aber ich würde sagen, das sogenannte "AMNOG"-System, das in Deutschland die Preise festsetzt, erfüllt im Gegensatz zu unserem wenigstens die Kriterien für einen gut funktionierenden Ausgleich. Man hat einen klaren Prozess. Man hat transparente, auf wissenschaftlichen Kriterien beruhende Bewertungsverfahren. Man hat klare Timelines, die eingehalten werden. Und man hat einen Zugang für Patienten bereits ab Tag 0 der Zulassung. Und im Endeffekt, wie gesagt, führt das in Deutschland dazu, dass fast alle neu zugelassenen, also auch von den Zulassungsbehörden zugelassenen Medikamente, auch sofort und für alle verfügbar sind. Und bei uns sind es nur gerade knapp die Hälfte. Also insofern würde ich sagen, wir müssen sicher das deutsche System nicht übernehmen. Aber wir sollten uns inspirieren lassen und wir sollten lernen von anderen Ländern, die es offensichtlich besser können als wir im Moment.
Lukas
Dort ist ja das eine die Zulassung. Dort, wie ich es richtig verstehe, ist die Kritik relativ gering. Swissmedic ist die Instanz, die das für die Schweiz macht. Aber beim Preisfestsetzungsmechanismus kommt das BAG ins Spiel. Was ist die Kritik am BAG?
David
Das Bundesamt für Gesundheit steht natürlich unter Druck. Wir haben es gerade vorhin gesagt, wir sind eine alternde Gesellschaft, wir haben immer mehr medizinisch-technische Möglichkeiten und wir müssen den Diskurs führen, was für ein Gesundheitssystem wir eigentlich wollen und was es uns am Schluss wert ist. Die Medikamentenpreise sind einer der ganz wenigen Hebel, die man auf nationaler Ebene hat, um Top-Down eine gewisse Bremse einzuspielen. Andere Themen, wir haben auch in anderen Bereichen Ineffizienzen im System, aber die sind politisch schwieriger anzugehen. Ich glaube einfach, dass wir jetzt in den letzten Jahren eine Tendenz gesehen haben, dass die Balance zwischen Preiskontrolle auf der einen Seite und Versorgung auf der anderen Seite, die ist aus dem Lot geraten. Und das sind die Trends, auf die wir gerade kurz angespielt haben. Meine Einladung an das BAG ist wirklich, dass man sich auf jeder Seite einen Ruck geben muss und zusammenkommen muss und gemeinsam mit den verschiedenen Playern in unserem Gesundheitssystem schauen, wie können wir das auf eine bessere Basis machen. Wir haben klare Forderungen im Raum. Wenn Sie mich konkret fragen, woran stören wir uns? Dann ist es oft so, dass zum Beispiel Vergleichstherapien, die zur Preisfestsetzung angezogen werden, eher auf ökonomische Kriterien gewählt werden. Dann haben sie eine moderne Therapie, die das Überleben verlängert mit deutlich besserer Verträglichkeit und das wird dann verglichen mit einer Chemotherapie aus dem letzten Jahrtausend. Einfach um den Preis möglichst tief Arbeit zu bekommen. Das machen andere Länder so nicht. Oder dass der Auslandspreisvergleich einfach tel-quel übernommen wird und das Ziel ist, dass bei uns der Preis höchstens so hoch sein darf wie in anderen europäischen Ländern, wo hingegen alles andere im Gesundheitssystem, alles was Sie und ich an Dienstleistungen und Waren beziehen, um die Hälfte teurer ist im Schnitt. Wir kennen das. Das führt nicht zu einem guten Punkt. So kommen wir nicht mehr wieder zurück in die Balance zwischen Verfügbarkeit und Preise. Und ich glaube, da braucht es neue Ansätze. Und wir sind sehr bereit, dort im Austausch zu kommen, auch einen entsprechenden Austausch.
Lukas
Hoffen wir, dass der Dialog weiter geht. Das sind halt administrierte Preise am Schluss, die auch Teil von eurem System in der Pharma, wie sie funktioniert, sind. Da kommen wir ja vielleicht, wenn wir über die USA reden, noch ein bisschen drauf. Auf der anderen Seite ist die Position des BAG, wenn ich das richtig pointiert wiedergeben darf, ein bisschen so, ja, es liegt nicht an uns, es liegt eigentlich an den hohen Preisvorstellungen der Pharma. Es ist natürlich klar, dass die Interessenlagen ein bisschen unterschiedlich sind, oder?
David
Das ist richtig, wobei, Sie haben jetzt auch gerade schon gesagt, die Preise in Deutschland sind bekannterweise schon oft höher und das kann ich bestätigen. Da muss man sich fragen, wo dieser Claim herkommt, dass bei uns Preise besonders hoch wären. Schauen wir uns mal die Gesamtzahlen an. Wie viel geben wir in der Schweiz als Anteil von unserem Bruttoinlandprodukt aus für patentgeschützte Medikamente? Und dann sehen wir, dass der Wert deutlich tiefer ist. Nicht nur deutlich tiefer als in den USA, da kommen wir sicher auch noch drauf, er ist auch deutlich tiefer als in Deutschland, er ist tiefer als in Österreich, als in Frankreich oder als in Italien. Das heisst, uns ist tatsächlich die Innovation bei den Medikamenten für uns selber, für unsere Patienten in der Schweiz, weniger wert, relativ gesehen, als in Deutschland und in den anderen umliegenden europäischen Ländern, ausgerechnet bei uns, das Herz der internationalen Pharma-Forschung und Entwicklung. Ich glaube, da sind wir jetzt einfach an einem Punkt gekommen, wo es eine Korrektur braucht. Das wird so nicht mehr funktionieren. Vor allem, weil die internationalen Preisvergleiche auch immer stärker jetzt ins Rampenlicht kommen und andere Länder schauen auf uns und die USA ist jetzt eines davon und sagen, Moment, wie kann das sein, dass die Schweiz nur bereit ist besonders tiefe Preise zu zahlen, wenn es bei uns anders aussieht.
Jenny
Es braucht neue Ansätze bei dieser Preisfestlegung in der Schweiz. Ein Punkt, über den ich gerne noch mehr wissen würde, sind die sogenannten Preismodelle, die neu dazukommen mit dem Kostendämpfungspaket. Dort geht es, vereinfacht gesagt, auch darum, dass es hinter den offiziellen Preisen nicht öffentlich zugängliche Preise gibt, die abgesprochen sind zwischen Pharma, Behörden, Krankenversicherungen Da stelle ich mir die Frage, auch aus Sicht der Bevölkerung, warum braucht es das? Weil etwas, was einem Gesundheitsminister sehr klar herauskommt, ist, dass die Bevölkerung sich eher mehr Transparenz von der Pharmabranche wünscht.
David
Ja, danke schön für diese Frage. Ich kann das persönlich sehr gut nachvollziehen, dass man am liebsten vollständige Transparenz hätte. Vielleicht nochmals kurz als Erklärung, damit wir vom Gleichen reden. Bei diesen nicht öffentlichen Preismodellen geht es darum, das ist ein Instrument, das helfen soll, dass man Patienten möglichst schnell Zugang zu einem Medikament gibt, zu einem relativ günstigen Preis. Also die sogenannten vertraulichen Preise, die sind immer tiefer als der Listenpreis. Behörden und Versicherer kennen die Preise natürlich. Jetzt ist es aber so, und das hängt zusammen mit internationalen Referenzpreissystemen. Es gibt über 30 Länder, die die Schweiz als Preisreferenzland nimmt. Und hier geht es darum, zu schauen, dass der Referenzpreis nicht plötzlich extrem tief runtergeht. Nochmal verständlich, die Forderung nach Transparenz. Jetzt ist es aber so, wenn man sich Daten anschaut, wenn Sie jetzt die nicht öffentlichen Preisvereinbarungen abschaffen und das alles transparent machen, dann wurde auf einen Schlag sichtbar, bei ganz vielen einzelnen konkreten Medikamenten, dass der Preis in der Schweiz besonders tief ist. Und in diesem internationalen Referenzpreisgefüge wurde das akut die Versorgung von Patientinnen und Patienten in der Schweiz gefährden. Ich wäre sehr für Transparenz. Ich würde sagen, persönlich, wir sind in der Schweiz für Preistransparenz aber erst dann bereit, wenn wir insgesamt unser Preissetzungssystem so anpassen, dass die Preise, die wir für moderne Medikamente zahlen, auch den Mehrwert dieser Medikamente widerspiegeln und auch die Kaufkraft, die wir haben in der Schweiz im Verhältnis zu anderen Ländern.
Lukas
Wir sprechen noch etwas über die Zukunft dieser Innovation, die die Schlagzahl der Pharmaindustrie vorgibt. Dort ist mein Eindruck, dass man sehr stark, auch von euch aus, über die personalisierte Medizin, die hier getrieben ist, spricht. Digitalisierung ist etwas, von dem man sehr viel diskutiert, das noch abstrakt im Raum ist. Aber meine konkrete Frage ist, kommt die Innovation nicht im Datenbereich von denen, die die meisten Daten haben? Ist nicht Google die Gefahr für die Pharmaindustrie, gar nicht die Preisfestsetzung und das ganze System, sondern eigentlich kommt es von ganz aussen plötzlich ein rein digitales, personalisiertes, datengesteuertes Pharmaversorgungssystem, das die Pharmaindustrie in der Schweiz plötzlich nichts mehr zu sagen hat?
David
Das ist ein grosser Bereich, den Sie ansprechen. (...) Ich gebe vielleicht noch mal eine Perspektive und sage Sie mir, ob das Ihre Frage beantwortet. Digitalisierung im Gesundheitssystem, wie gehen wir mit Daten um, ist eine fundamental wichtige Frage. In der Schweiz ist mein Eindruck, und Sie haben es gerade angesprochen, dass das ganz stark von Sicherheitsdenken geprägt ist, die Diskussion. Und das finde ich auch gut und richtig. Man muss schauen, wie man mit diesen hochsensitiven Daten umgeht, so dass eben kein Schindluder getrieben wird damit, gut deutsch gesagt. Das ist ein wichtiger Aspekt, das ist fundamental, aber andere Länder zeigen bereits seit Jahren, wie das funktioniert und ohne Zwischenfälle. Ich glaube, der Teil der Diskussion, der mir fehlt, ist die chancenorientierte Perspektive. Ich habe mit meiner Familie drei Jahre in Finnland gelebt, bis vor kurzem. Und als wir zurückgekommen sind in die Schweiz, also dort hat jeder ein elektronisches Patientendossier. Das bekommt man in dem Moment, als man ins Land reinkommt. Das ist überhaupt keine Wahl. Das ist automatisch mit der Personen-ID verbunden. Und man hat sofort auf dem Handy auf sämtliche eigenen Daten Zugriff. Jeder persönlich, das ist gut abgesichert, jeder Arztbericht, jeder Laborwert, jedes Röntgen, jede Gewebeuntersuchung, jeder Zahnarzttermin, jede Verordnung. Sie haben alles sofort und jederzeit verfügbar. Da ist ihre Transparenz, die Sie vorher angesprochen haben. Ich muss nicht Bitte-Bitte machen bei einem Arzt oder einem Spital, sagen, ich bräuchte noch diesen Bericht oder könnte es immer einmal... Sondern es ist alles sofort als Patient verfügbar. Und natürlich kann man das auch zu Forschungszwecken nutzen. Auch das ist behördlich sehr streng geregelt. Für mich war es nicht nachvollziehbar, dass ich auf all das verzichten muss. Ich glaube, wir reden zu wenig darüber. Was lassen wir uns eigentlich entgehen, dadurch, dass wir so zurückhaltend sind? Unser Rückstand in der Digitalisierung in der Schweiz hat schon fast komische Qualitäten. Auch mit den jetzt laufenden Initiativen, wenn es gut kommt, sind wir Mitte der 20-30er-Jahre dort, wo die nordischen Länder schon vor über zehn Jahren waren. Ich glaube, dort braucht es eine Beschleunigung, also dass wir jetzt zum Beispiel das elektronische Gesundheitsdossier jetzt mit einer Opt-out-Lösung eigentlich Standard für alle werden sollen. Das ist ein längstens überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Ich glaube, wir dürfen uns erlauben, dort ein bisschen mutiger zu sein. Und ich glaube, wir dürfen uns erlauben, auch das zu sehen, was alles möglich wird durch diesen technologischen Wandel. Wir profitieren nämlich, jeder von uns kann davon profitieren.
Jenny
Das Thema Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen haben wir unter anderem im Detail besprochen mit Katrin Crameri, die auch bei uns war, vom Programm DigiSanté. Ein Punkt, der auch damals stark aufkam, ist der Datenschutz. Es geht um Forschungsdaten, die natürlich auch benötigt werden in einem digitalisierten Gesundheitssystem. Und dort ist ein Punkt, der sehr stark herausgekommen ist, dass die Bevölkerung ein sehr unterschiedliches Vertrauensniveau hat in verschiedenen Akteure, wenn es darum geht, wie man jetzt ihre Gesundheitsdaten verwertet. Und gerade bei Privatunternehmen, das wissen wir aus dem E-Health-Barometer, ist das Vertrauen aktuell noch relativ tief. Was kann man dem Misstrauen entgegensetzen oder was bräuchte es, damit die Bevölkerung mehr Vertrauen hat, was die Verwendung von ihren Gesundheitsdaten anbelangt für Forschung?
David
Das ist eine gute Frage. Ich kann das finnische System als Beispiel nehmen. Dort gibt es staatliche Behörden, wo Forschungsgruppen, aber auch Industrieunternehmen Anträge stellen können. Um auf anonymer Basis aggregierte Gesundheitsdaten für Forschungszwecke verwenden zu können. Und das wird also, mit anderen Worten, es gibt einen Gatekeeper, der ist staatlich und der kontrolliert, das sind eben Forschungsaufträge, was machbar ist. Und als Unternehmen kann ich auch nie direkt auf einzelne Patientendaten zugreifen, sondern das muss natürlich geregelt sein, das ist ganz richtig. Aber dort gibt es Mittel und Wege. Auch dort sind wir wieder beim Thema. Wir können von anderen Ländern lernen, die uns 20 Jahre voraus sind in diesem Bereich und 20 Jahre Erfahrung haben. Ich glaube, da dürfen wir nicht zu stolz sein und können uns die eine oder andere Scheibe abschneiden, insbesondere bei den nordischen und baltischen Ländern in Europa.
Lukas
Das wären die Chancen gewesen. Jetzt kommen wir nochmals zu den Risiken. Wir haben es schon ein paar Mal die USA gestreift. Dort ist die Situation so, dass wir jetzt verschiedene Wege sucht, dass die Preisgeschichte auch in den USA anders diskutiert wird. Und mit dem verbunden kommt eben auch die Forderung lautstark, gerade auch von Novartis, wir müssen über Preise noch einmal reden, in der Schweiz. Das macht natürlich Sorgen, wenn man jetzt die ganze Risiko- und Sorgendiskussion hat. Wo steht man da im Moment?
David
Ja, das macht mir auch Sorgen. Schauen Sie, die US-Administration ist entschlossen, Preise für Medikamente am Niveau von Preisen in anderen industrialisierten Ländern anzugleichen. Das ist übrigens nicht neu. Das ist nicht erst eine Diskussion, die jetzt unter der Administration Trump wieder aufgekommen ist. Das ist bereits vor und bereits unter Obama und auch unter anderen demokratischen Präsidenten ist das gegangen. Die sind allerdings nicht mit einer Vehemenz an das Thema angegangen, die wir jetzt im Moment sehen. Es geht dort um das sogenannte «Most Favourite Nation» Prinzip. Im Prinzip bedeutet das, dass die USA Preise für Medikamente erhalten sollen, die auf dem Niveau der Preise neun Vergleichsländer sind. Diese neun Vergleichsländer sind die grossen sieben Industrienationen plus Dänemark und wir in der Schweiz. Und die Forderung ist dann noch dazu, dass man das kaufkraftbereinigt machen soll. Das heisst im Prinzip sollte dann, wenn man das so anschaut, steht die Forderung im Raum, dass die Preise bei uns sogar 10-20% höher sein sollten, weil unsere Kaufkraft höher ist als die in Amerika. Da gibt es jetzt ganz viele Fragen, wie das konkret umgesetzt wird. Und ich glaube, da ist noch vieles offen. Wir beobachten das mit grosser Aufmerksamkeit, auch mit einer gewissen Sorge. Ich glaube, was wir für uns in der Schweiz daraus mitnehmen müssen, ist der Spielraum, für den wir eben in der Schweiz Ausnahmepreise machen können, die deutlich tiefer sind als auch in anderen europäischen Ländern, dieser Spielraum verschwindet jetzt gerade ganz schnell. Und wir sind noch nicht bereit, weil unser Preisfestsetzungssystem das nicht so reflektieren kann. Und darum haben wir eben gesagt, jetzt als minimalen ersten Schritt haben wir jetzt die Möglichkeit, im Rahmen der laufenden KVV-Revision ein paar wichtige Pflöcke einzuschlagen. Vergleichstherapien müssen wissenschaftlich-medizinisch basiert sein, auf Expertenmeinung und nicht rein, was sehen wir noch Günstiges irgendwo, ein bisschen flapsig formuliert, dass das Auslandspreisvergleich eine kaufkraftbereinigt sein sollte. Denn das ist jetzt das, was im internationalen Kontext passiert. Wir haben die Möglichkeit, die Verfügbarkeit von Medikamenten ab Tag 0 sicherzustellen. Das müssen wir pragmatisch umsetzen, das ist ganz wichtig. Und letzten Endes auch, wenn es jetzt nochmal um die Mengenrabatte, die Kostenfolgemodelle geht, haben wir gesagt, das ist beschlossen worden, das muss umgesetzt werden, aber das ist ja beschlossen worden in einem ganz anderen internationalen Kontext. Wenn Sie jetzt die US-Administration sind und Sie sehen so Mengenrabatte von teilweise bis zu 50 Prozent, dann ist das eine Innovationssteuer, wo sie natürlich ganz klar sagen, okay, das ziehen wir gerade nochmal von eurem Preis ab. Wir müssen uns gut überlegen, wie wir das umsetzen können, auch dort pragmatisch und unter Berücksichtigung von den veränderten Umständen, die wir haben. Weil sonst steht wirklich in Frage, wie wir in der Schweiz in der Zukunft neue Medikamente noch einführen können.
Lukas
Ja, in diesem Kontext ist ja auch die Frage, wie sich das wirtschaftspolitische Gefüge mit Europa verschiebt. Dort ist die Pharmaindustrie relativ klar für das Paket mit der EU, das Bilaterale 3. Wie ist diese Position im Moment oder wie läuft die Diskussion aus Sicht jetzt Pharma oder Novartis?
David
Sie haben recht, also genau wie Sie gesagt haben, wir unterstützen die Bilateralen 3 entschieden. Wir sind ein kleines Land, Europa ist für uns, wenn ich das so sagen darf, das ist der natürliche Heimat. Es gibt Rechtssicherheit, es gibt Planungssicherheit, das ist für uns wichtig. Und wir sind natürlich in der Schweiz existenziell darauf angewiesen, dass wir Zugriff haben auf die schlauesten Köpfe und die gibt es nicht nur in der Schweiz. Dass technische Handelshemmnisse möglichst inexistent sind mit Europa, dass wir eine Zusammenarbeit haben, auch im europäischen Verbund im Forschungsbereich, also Horizon zum Beispiel, ist dort für uns ein wichtiges Thema, weil wir stehen nicht alleine da. Allein wir bei Novartis, wir haben 120 Kollaborationen mit akademischen Forschungszentren überall in der Schweiz. Das heisst, wir müssen das ganze Ökosystem stärken und dazu Sorge tragen. Und gute, geregelte Beziehungen zur Europäischen Union sind dort für uns einfach essentiell.
Jenny
Die Pharma spricht sich klar aus für die neue Auflage der bilateralen Verträge. Wir sehen auch, wenn man die Bevölkerung fragt, aktuell ist viel Zustimmung da. Es ist natürlich noch ein sehr früher Moment in der Meinungsbildung, aber es gibt viel Zustimmung für diverse Pro-Argumente zu den neuen Bilateralen. Gleichzeitig auch verschiedene Punkte, die viel Personen in der Schweiz sich dazu Sorgen machen. Das sind häufig Punkte im Zusammenhang mit der Zuwanderung, also Stichwort Lohndruck oder auch Druck auf den Wohnungsmarkt, solche Sachen. Aus Sicht der Pharma, wie ist es mit diesen Herausforderungen am besten umzugehen, die auch mit dazugehören bei diesem Verhandlungspaket?
David
Ich glaube, das ist eine ganz wichtige politische Diskussion. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Sie erleben das auch, ich erlebe das auch. Wir sind im Moment ein sehr attraktives Land. Das hat zu einer Netto-Zuwanderung geführt über die letzten Jahre, die geht weiter. Wenn Sie mich persönlich fragen, ich glaube, wir müssen uns einfach überlegen, ob es uns der Wert ist, dass wir dort Lösungen finden, für diese Themen, diese Probleme und das müssen wir, was Sie angesprochen haben, oder ob wir versuchen, diese Probleme zu beseitigen, indem wir potenziell weniger attraktiv werden, weil wir ein bisschen weniger wohlhabend sind und weil wir weniger wachsen, weil unsere Wirtschaft weniger gut läuft. Ich würde mich für das Erste entscheiden, aus einer Position der Stärke heraus und dem Vertrauen als Schweiz, als Schweizer Gesellschaft, können wir Lösungen finden für diese Probleme. Ich möchte vielleicht noch einen Punkt anfügen, wenn Sie mich spezifisch für die Pharmaindustrie fragen. Wir holen ausschliesslich hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Land. Wir haben Schweizer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, selbstverständlich, aber eben teilweise kommen die auch von überall auf der Welt. Und das ist eine gigantische Stärke. Das ist für uns ein Teil des Innovationsmotors, den wir haben. Und im Durchschnitt schafft jede Stelle, die wir in der Schweiz haben, eine Wertschöpfung von über einer Million Franken im Jahr. Das ist fünfmal produktiver als der Durchschnitt der Arbeitsplätze in der Schweiz. Das heisst, ich glaube, die Zuwanderung, die Sie bei uns sehen, das ist die Zuwanderung, von der ich sagen möchte. Das brauchen wir, das wollen wir, die macht uns stark.
Lukas
Eine kämpferische Stimme, vor allem für Rahmenbedingungen, für die eigene Industrie. Aber man spürt auch ein bisschen raus für das gesamte Ökosystem Schweiz und die Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Herzlichen Dank David Traub für den Besuch bei uns. Und Jenny, die Rolle haben wir am Anfang angetönt. Es ist eine anspruchsvolle. Jetzt haben wir einen riesigen Strauss von Themen gehört. Wie hast du das Gefühl, wo ist am meisten Bewegung im Moment nötig von der Schweiz?
Jenny
Ja, also ich habe den Eindruck, aktuell sind sowohl innenpolitisch als auch ausserpolitisch sehr viele Themen auf dem Parkett. Ich persönlich erhoffe mir, dass wir, jetzt gerade was die aussenpolitischen Beziehungen anbelangt, es ist halt momentan so viel in Bewegung, dass wir dort bald auf einen grüneren Zweig kommen und eben mehr auf Rechtssicherheit zählen können, klarere Beziehungen, damit es für die Pharma-Branche, aber auch für die anderen Branchen in der Schweiz zunehmend einfacher wird. Also da hoffe ich drauf.
Lukas
Wir haben viel gehört von der Pharmaindustrie, dass sie einen konstruktiven Dialog sucht. Und dieser konstruktive Dialog ist jetzt besonders nötig und muss besonders aktiv gesucht werden. Das ist mein Fazit von heute.
Jenny
Genau, und wer es genau wissen möchte, alle Details zu den genannten Studien finden sich unten in der Beschreibung.
gfs.echo #04, Novartis Schweiz-CEO David Traub: «Pharma-Forschung ist ein Hochrisiko-Geschäft»
gfs.echo #03, Psychiaterin Esther Pauchard: "Zu viel Anspruch, zu wenig Kapazität. Die 100%-Illusion im Gesundheitswesen"
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Stress, Perfektionismus und die Frage: Wie bleiben wir handlungsfähig – persönlich und im System? Lukas Golder und Jenny Roberts sprechen mit der Psychiaterin Esther Pauchard über realistische Erwartungen (oft reichen 70 %), die Verwechslungsgefahr von Krise und Krankheit, und warum Schonung und Vermeidung selten stärken. Pauchard plädiert für offene Gespräche am Arbeitsplatz, entstigmatisiert Diagnosen ohne sie zu romantisieren und zeigt, wie wir die «Tragenden» im Gesundheitswesen schützen.
In der Folge erwähnte Studien:
Transkript gfs.echo #03
Lukas
Herzlich willkommen. Fokusthema Gesundheit. Jenny, das Gesundheitswesen ist unter Druck. Wir sind aber auch als Gesellschaft irgendwo insgesamt immer mehr unter Druck.
Jenny
Ja, ich habe auch diesen Eindruck. Zumindest ist es ein Thema, das ich auch häufig in meinem persönlichen Umfeld bespreche. Wir reden oft darüber, wie es den einzelnen Leuten geht, aber auch uns allen als Gesellschaft. Die psychische Gesundheit ist sicher auch ein grösseres Thema. Aber auch Stress ist ein grosses Stichwort. Unter anderem wissen wir aus der Gesundheitsbefragung vom BFS, dass mittlerweile im Vergleich zu vor zehn Jahren fast ein Viertel der Leute in der Schweiz sagen, dass sie regelmässig Stress am Arbeitsplatz erleben. Ich denke, es sind ganz verschiedene Themen, die wichtig sind und auf die ich mich freue, im heutigen Gespräch zu vertiefen.
Lukas
Reden wir mit der Psychiaterin darüber. Herzlich willkommen, Esther Pauchard.
Esther
Merci vielmals.
Lukas
Wir haben über eine Gesellschaft geredet, die sich im Stress fühlt, aber du selber hast eigentlich schon als Kind sehr viel Zeit im Spital verbringen müssen, mit einem Hüftleiden von Geburt an. Und du hast nachher als Mutter und bereits in einer Führungsfunktion als Psychiaterin auch noch eine Krebsdiagnose ertragen müssen. Ist es dir selber in diesem Moment zu viel geworden?
Esther
Nicht zu viel, aber es hat mich hübsch herausgefordert. Es hat mir ehrlicherweise sehr gut getan, mich einmal auf der anderen Seite des Pults wiederzufinden. Nicht immer auf dieser Seite als Behandlerin, sondern eben als Patientin. Ich habe extrem viel gelernt. Was ich heute aber im Nachhinein sagen kann: Es hat mich auch sehr, sehr gestärkt. Ich will es nicht missen. Es hat mehr aus mir gemacht, als ich vorher war.
Jenny
Du hast ja schon die Unterstützung von deinem Mann erwähnt, gerade in dieser schwierigen Phase. Etwas, was wir dank dem Krebsmonitor wissen, den wir unter anderem durchführen, ist, dass grundsätzlich in der Schweiz Leute, die betroffen sind von Krebsdiagnosen, das Gefühl haben, die Versorgung habe eine recht hohe Qualität. Also man ist insgesamt ziemlich zufrieden. Wenn es aber Punkte gibt, die man noch verbessern könnte, nennen die Leute öfter mal die Unterstützung der Betroffenen selber und für ihre Angehörigen, was den psychischen Bereich anbelangt. Hast du das auch so erlebt, dass du dir dort eigentlich mehr Unterstützung gewünscht hättest?
Esther
Ich kann es nicht so sagen, aber es ist noch schwierig. Wir sind halt Selbstversorger. Das macht die Situation ein bisschen schwierig. Ich finde eher, dass die Angebote von der Psychoonkologie her recht ausgebaut sind. Mir wurde dort ganz viel angeboten, das ich hätte nutzen können, das ich aber nicht brauchte. Ich denke, in den allermeisten Fällen, sei es bei einer Krebsdiagnose oder sonst bei belastenden Lebensumständen, arbeiten wir selber oder miteinander – mit Angehörigen, mit Freunden, mit Leuten rundherum. Das habe ich dann gemerkt. Ich habe wirklich den Eindruck gehabt, dass meine Leute so wie ein Ring um mich schlossen. Und das habe ich ganz stark empfunden. Ich habe immer gedacht: Alleine alles schaffen – easy. Das hat mir sehr gut getan. Darum habe ich den dritten Kreis, den professionellen, gar nicht gebraucht. Aber ich habe den Eindruck, es gibt viele Angebote. Das ist schon ausgebaut.
Lukas
Du gehst ja noch weiter. Du sagst, dass das auf eine Art deine Beziehung zu deinen Kindern gestärkt hat. Indem eine Belastung von dir auch mal für sie spürbar wurde.
Esther
Am Anfang war es natürlich schrecklich. Sag mal deinen Kindern, du hättest ein unbekanntes Krebsleiden, das auch eine Metastase sein könnte. Und ich dachte, ich schade diesen Kindern. Ich mache sie kaputt damit. Aber jetzt haben wir gemerkt, wir sind stärker geworden. Wir haben alle zugelegt durch das. Dann hat es auch sie mal gebraucht. Dann haben sie mich auch mal weinen gesehen. Sie haben meine Angst gespürt. Sie haben gespürt, wie ich auf diesem Weg bin. Aber auch, wie ich wieder aufgestanden bin. Und dass man das eben bewältigen kann. Ich glaube, das hat uns als Familie sehr viel mehr gebracht, als wenn es einfach glatt gelaufen wäre.
Lukas
Ich glaube auch, dass durch die Bewältigung deiner eigenen Wege und die Verarbeitung deiner eigenen Wege oder deiner Familie es so gekommen ist, dass du immer mehr versucht hast, auch etwas Grundsätzliches zurückzugeben. Und nicht einfach sagen, was kann man machen in der Einzeltherapie oder in der Therapieinstitution, sondern dass du denkst, jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Die Gesellschaft ist wirklich unter Stress. Jenny hat es angetönt. Das Empfinden ist am Wachsen. Es sind sehr viele Elemente von Druck. Jetzt wollen wir natürlich von dir wissen, wie wir damit umgehen.
Esther
Ich finde, es lohnt sich schon mal, den Druck genauer anzuschauen. Du hast das Wort Stress, also Stressempfinden, gebracht, und das ist ein sehr treffender Begriff. Einerseits haben wir ja den Stressor, also den Druck, der von aussen kommt. Das kannst du physikalisch sehen. Wenn ich etwas doppelt so schnell machen muss, dann habe ich doppelt so viel Druck. Wenn ich doppelt so viel Gewicht tragen muss, dann auch. Das ist das Technische. Aber dann habe ich auf der anderen Seite noch meine persönlichen Komponenten. Wie bewerte ich es? Wie verarbeite ich es? Kann ich damit umgehen? Kann ich es abfangen? Oder heize ich mein Stressempfinden noch immer mehr an, indem ich Widerstand entwickle? Das finde ich ganz wichtig. Wenn die Welt so ist, wie sie ist – und das ist hier der Punkt –, aber ich habe die Welt gerne so, wie sie sein sollte, in diesem Idealzustand, dann ist das, was hier zwischendurch ist, die Spannung, die es gibt; je grösser die ist, desto schlimmer. Man nennt das die Inkongruenz. Und was hier ganz wichtig ist, ist eben auch unsere Erwartung. Und an dem, habe ich den Eindruck, kranken wir heute auch. Das merke ich immer wieder. Wir gehen so davon aus, es muss alles ideal laufen. Also wir haben unsere Normlatte auf einen Idealzustand raufgetan. Und nach dem Motto: 100 % müssen wir schaffen. Und da ist natürlich klar, dass wir viel, viel schneller in ein Stressempfinden kommen, dass es eine Fehlermeldung gibt, dass wir finden: Das kann ja nicht sein – und empört reagieren –, als wenn man sagen würde: Ja gut, also mit 70 % bin ich schon zufrieden. Und diese Aspekte finde ich schon wichtig, dass wir dort hinschauen. Weil sonst laufen wir Gefahr, dass wir nur die äussere Situation anschauen und sagen, man sollte doch. Oder noch besser, die anderen sollten doch. Das hilft uns nicht. Es kann auch sein, es kann wahr sein, aber es hilft uns nicht.
Lukas
Ja, wir haben ... ja, insgesamt die Herausforderung als Gesellschaft, eben gewisse Elemente zu bewältigen. Und du sagst, ganz wichtig ist die Analyse zwischen dem, was wir empfinden, und dem, was wirklich das Problem ist. Es gibt halt auch Probleme, die nicht so bewältigbar erscheinen.
Esther
Es gibt auch solche, die nicht bewältigbar sind. Das Mindset im Sinne von: Wenn ich nur das Richtige mache, dann kann ich alles bewältigen. Das stimmt nicht. Ich kann nie 100 % bewältigen, aber auch nicht null. Und den Rest, den ich nicht bewältigen kann, mit dem muss ich auch etwas machen. Das ist auch wahr. Und dort ist die Akzeptanz ein relativ wichtiger Begriff. Wie komme ich damit klar? Wie bewerte ich das? Strecke ich die Waffen? Lasse ich mich fallen? Sage ich: Dann hat alles keinen Sinn mehr? Oder schaffe ich es, in dem Bereich, in dem ich etwas machen kann, das herauszuholen, was ich kann? Das sind alles Fragen, die wir uns stellen müssen. Ganz losgelöst davon, dass wir uns, glaub, alle einig sind, dass unser Lebensstil, unsere Umgebungsfaktoren zu wünschen übrig lassen und wir einiges noch herausholen können. Aber allein das – wenn wir nur das sehen – lässt uns in eine Opferhaltung hineinfallen.
Lukas
Ja, Ohnmacht haben wir auch vor allem bei den Jungen, die wir beobachten konnten.
Jenny
Ja, ich finde es einfach ganz wichtig, das, was du sagst – das sieht man auch gut in den Zahlen. Beispielsweise jetzt in der CSS-Gesundheitsstudie: Immer mehr Leute geben an, dass sie sich permanent unter Druck fühlen, um leistungsfähig zu bleiben. Und gerade wenn man so Unterschiede anschaut zwischen verschiedenen Generationen, zwischen den Geschlechtern, etwas, das halt fest auffällt und auch oft in den Medien Thema ist, ist der Unterschied – oder der Fakt –, dass vor allem junge Frauen sehr oft angeben, dass es ihnen psychisch nicht so gut geht im Vergleich zu den anderen Gruppen. Mich würde es mega interessieren – aus deiner klinischen Erfahrung und auch sonst –, wie du das wahrgenommen hast. Ist das eine demografische Gruppe, die uns besonders Sorgen machen müsste, oder müssen wir das Ganze noch breiter denken?
Esther
Ich denke, breit denken ist nie falsch. Ich finde es immer sehr gefährlich, wenn wir sagen, die Gruppe ganz speziell, die sind speziell. Es betrifft uns schlussendlich immer alle als ganze Gesellschaft. Ja, natürlich ist es so, dass die Belastung der jungen Generation, und innerhalb von denen vielleicht der Frauen, noch ein bisschen höher ist. Aber es hat ja etwas mit uns allen zu tun. Die junge Generation ist ja von jemandem quasi erzogen worden. Und das heisst, es betrifft nachher uns als ältere Generation auch. Mir dient es mehr, wenn ich drei Schritte zurückgehe und sage, was betrifft uns alle. Und ich sehe mehr Faktoren, die uns alle betreffen, als dass ich jetzt mit dem Finger zeige: «Ui, die Jungen da.» Man könnte aber davon ausgehen, wenn wir als ältere Generation ein Problem haben einreissen lassen, unsere Illusionen machen, werden wir die natürlich unseren Kindern potenzierter mitgeben. Also es gibt einen Potenzierungseffekt. Was aber nicht heisst, dass Kinder mehr Probleme haben, sondern sie haben es doppelt mitbekommen oder sie stehen an einem anderen Ort. Und wir können es auch so sagen: Vielleicht hat man in den 80er-, 90er-Jahren zu wenig diagnostiziert, zu wenig hingeschaut. Und dann hat es sicher Sinn gemacht, zu sagen: Hey, schau mal zu dir. Trag Sorge, nachher schauen, was ist eine Diagnose und so weiter, das ernst nehmen. Wir stehen heute an einem anderen Ort. Es werden viel mehr Diagnosen gestellt. Und wenn wir jetzt aber immer noch – und das sehe ich immer wieder zu meinem grossen Unglück – die Devise verkünden: Mental Health heisst schonen, heisst vermeiden, heisst uns zurücknehmen, so wenig wie möglich machen. Dann dient uns das nicht mehr. Also was wir empfehlen und was es jetzt gerade braucht, hängt immer davon ab, wo wir jetzt stehen. Und das ist vielleicht auch ein Faktor, warum die junge Generation jetzt mehr Mühe hat als vielleicht wir dannzumal noch.
Lukas
Dort ist ja eine heikle Diskussion um Transparenz im Gang. Dass wir mehr offen über das reden, ist ja auch in deinem Sinn wünschenswert.
Esther
Absolut. Auf jeden Fall, dass wir offen darüber reden und dass wir auch die Breite zulassen. Ich finde eigentlich das Konzept der Neurodiversität super. Man sagt, wir sind alle unterschiedlich – so what? Nehmen wir es, wie es kommt. Aber was mir Sorgen macht, ist, dass die Entstigmatisierungsbemühungen, gerade in der Psychiatrie, die man über Jahrzehnte vorangetrieben hat, übergeschwappt sind. In gewissen Bereichen ist es immer noch so, dass eine Diagnose peinlich ist, aber in anderen Bereichen habe ich das Gefühl, gehört eine Diagnose schon fast zum guten Ton. Oder ist attraktiv. Oder ist wünschenswert. Also es gibt Leute, die sich sehr identifizieren, gerade mit diesen moderneren Diagnosen. Und das macht mir auch Sorgen. Ich möchte nicht, dass Menschen Nachteile haben, wenn sie eine psychiatrische Diagnose haben. Aber wenn sie Vorteile davon haben, haben wir auch wieder ein Problem, weil das Chronifizierung fördert. Und da ist irgendwo die Balance gefragt: Wie gehen wir jetzt mit dem Grossthema Diagnose um?
Lukas
Da sind wir mitten in der Diskussion um Burnout. Ganz konkret: Cassandra Bergen ist ein bisschen du, würde ich jetzt mal boshaft sagen.
Esther
Meine Protagonistin, meine Krimi-Protagonistin.
Lukas
Durch den Tag behandelt sie psychisch zum Teil schwerkranke Leute. Und in der Nacht löst sie heftigste Kriminalfälle, böse gesagt. Und das ist ja fast eigentlich die Definition von jemandem, der wenig auf seine eigene Gesundheit achtet. Das ist ja eigentlich genau das Problem, oder?
Esther
Ich habe bei Cassandra Bergen nicht so Angst wegen dem Burnout. Und zwar, weil sie sehr authentisch ist. Sie ist bei sich, sie verbiegt sich nicht. Und das ist mir noch so wichtig. Sie übernimmt auch die Verantwortung für sich. Sie macht manchmal schon Fehler, aber sie übernimmt die Verantwortung. Und ich finde, Selbstverantwortung – bei sich hinzuschauen und auch mal etwas von sich zu verlangen –, das ist für mich eine Burnout-Prophylaxe. Weisst du, ich muss ein bisschen aufpassen, dass ich dort nicht einen allzu einseitigen Blickwinkel habe. Ich habe kürzlich auch noch mit jungen Erwachsenen gearbeitet, stationär, psychiatrisch. Und dort habe ich den Eindruck gewonnen, bei den allermeisten ist Vermeidung das Problem und nicht übermässiger Stress. Natürlich gibt es auch andere Fälle, wo Leute viel zu viel haben. Aber mir ist aufgefallen, dass gerade bei den Patienten, die ich dort gesehen habe – was natürlich etwas eingeschränkt ist, eine spezielle Situation –, viele das Gefühl hatten: Jetzt muss ich endlich zur Ruhe kommen, weniger machen. Aber sie haben auch das Basalste des Alltags nicht hingekriegt. Dort müssen wir aufpassen. Vermeidung ist für mich mindestens so gefährlich wie Stress. Und deswegen finde ich, Stress hat manchmal ein Imageproblem. Ja, ein chronischer Dauerstress ist nicht gut für uns. Aber dann meinen viele: Da muss ich mich so fest wie möglich schonen. Und immer wenn ich mich nicht gut fühle, muss ich mich noch mehr schonen und noch mehr Rückzug und noch mehr Entlastung und noch mehr Vermeidung. Das ist tückisch. Weil Schonung und Vermeidung machen mich nicht stärker. Das treibt mich zurück in die Komfortzone, und ich werde immer kleiner und kleiner. Und das ist das Nervige der Psychiatrie. Es gibt nicht einfach ein Rezept, das stimmt, sondern es kommt immer darauf an, wo wir stehen. Und je nachdem muss ich jemandem das raten, dem anderen aber etwas ganz anderes. Und diese Flexibilität braucht es. Und wenn ich in den sozialen Medien eben Rezepte lesen kann, im Sinne von: Burnout ist, wenn man dich nicht ernst nimmt und wenn man dich nicht sieht –, dann läuten bei mir die Alarmglocken. Wie viele dieser Rezepte, die da rumschwirren, treiben eigentlich die Leute in die Vermeidung, damit in die Opferhaltung und damit in die Chronifizierung. Das ist so ein bisschen Highway to Hell.
Jenny
Um bei diesem Stichwort Burnout zu bleiben, aber jetzt vielleicht weniger wie die Cassandra Bergen und mehr so bei der breiteren Gesellschaft: Mich hat es echt erstaunt, als ich auch in der CSS-Gesundheitsstudie nachgelesen habe, mittlerweile geben nur noch quasi zwei Drittel der Bevölkerung an, dass sie noch nie so eine Art Erfahrung hatten in ihrem Leben, die sie jetzt als Burnout bezeichnen würden. Wenn ich dir jetzt so zuhöre, würde ich sagen, vielleicht müssen wir uns da doch nicht so Sorgen machen – oder wie würdest du das einschätzen?
Esther
Weisst du, ich sage dir, das ist wirklich ganz klar meine persönliche Meinung. Ich komme jetzt da nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit und Empirie. Aber meine persönliche Meinung ist, dass wir dazu neigen, ganz normale, belastende Lebensumstände zunehmend als Krankheiten zu missinterpretieren. Zu denken: Hey, das ist auf jeden Fall eine Diagnose. Dabei gehört es zum Leben. Man nennt das Leben. Das heisst, intensive negative Gefühle, Phasen von Verunsicherung, Misserfolg, Verlust, auch einschneidende Lebensereignisse – da haben ganz viele Leute das Gefühl, das sei krank. Es braucht immer eine Therapie. Das ist nicht so. In den wenigsten Fällen braucht es einen Therapeuten. Dort müssen wir hinschauen. Nicht jeder Mensch, der sagt, ich fühle mich deprimiert, hat die Diagnose einer Depression. Das müssen wir unterscheiden. Stress ist ein sehr subjektives Empfinden, Schmerz ist ein sehr subjektives Empfinden, auch das Deprimiertsein ist sehr subjektiv und hängt auch sehr stark davon ab, was wir erwarten. Und dieser Idealzustand, wo wir eben unsere Nulllinie aufgehängt haben auf 100 %, da ist schon 99 unzumutbar. Und das sehe ich an so vielen Orten.
Lukas
Dort willst du ganz klar – wenn ich jetzt probiere, in deinen Werkzeugkasten hineinzuschauen, was du in deiner Ratgeberliteratur machst – ganz klar unterscheiden zwischen ... Also es gibt ein Problem, nehmen wir wieder das Problem, zum Beispiel du bist unter Druck am Arbeitsplatz, bist unglücklich mit deiner Chefin: dass man sagt, was ist genau das Problem, dass man sich das vielleicht auch aufschreibt und wirklich genau probiert, auseinanderzunehmen, was objektiv wirklich die Problemsituation ist. Was ist genau der Druck?
Esther
Der technische Aspekt quasi.
Lukas
Der technische, genau. Und auf der anderen Seite der Gefühlsaspekt. Warum fühle ich mich bei dem so unter Druck? Oder empfinde ich sogar Unsicherheit, Ängste? Dass man das genau auseinandernimmt und vielleicht mit diesem Instrument zuerst für sich schaut. Und dann hat man vielleicht auch die Grundlage, um mit der Chefin ein gutes Gespräch zu führen.
Esther
Und weisst du, genau dieses Hinstehen, um mit der Chefin ein Gespräch zu führen – ich finde, das machen wir zu wenig. Es ist so: «Ach Gott, Arbeitsplatzbedingungen sind Horror.» Ich meine, in den 68er-Jahren sind die Leute auf die Strasse gegangen. Heute, wenn man sich nicht wohl fühlt am Arbeitsplatz, was macht man? Standardspruch: «Ich hole mir ein Zeugnis.» Dann gehe ich rückwärts raus, dann bin ich geschützt. Und dann will ich aber auch nicht mit dem Chef reden, weil der nächste Chef wird sicher super. Nein, wird der auch wieder nicht. Ich finde auch, unsere Arbeitsplatzbedingungen – dort müssen wir etwas ändern. Schaffen wir aber nicht, wenn jeder, der sich nicht wohl fühlt, sich schweigend rauszieht, sondern es braucht mehr Zivilcourage. Dass wir uns trauen, zu sagen: Nein, hallo, was soll das? Dass wir uns auch mal die Freiheit nehmen zu sagen: Schau, sorry, ich kann nicht zaubern. Und wir sind ja mega gut, heutzutage einander die heissen Kartoffeln zuzuschieben. Im Sinne von: Wenn du nur genug effizient bist, dann kannst du das, und das darf ich von dir verlangen. Und so gehen wir hin und her und hin und her. Es braucht Leute, die sagen: Hey, träumt weiter, Jungs. Es geht nicht. Und diese Zivilcourage wünsche ich mir mehr. Ich wünsche mir mehr Wahlbeteiligung und weniger Arbeitsunfähigkeitszeugnisse. Und weniger anonyme Hasskommentare im Internet.
Lukas
Okay, das können wir unterschreiben.
Esther
Ja, vorne stehen und etwas machen. Viele von diesen Faktoren, die wir zu Hause haben, passieren uns einfach. Haben wir vielleicht trotzdem etwas, womit wir das ändern können? Weisst du, zum Beispiel auch digitale Medien, soziale Medien und so weiter, wo alle sagen: Ui, ganz schlimm. Schlussendlich bin ich dann trotzdem noch ich, der sich entscheidet: Nehme ich jetzt das Gerät zur Hand oder nicht? Und was bringe ich meinen Kindern damit bei? Solche Fragen, dass wir nicht vorschnell denken: unzumutbar, ich bin eine Arme, sondern auch schauen: Was kann ich hier machen? Also wie weit ist quasi die Reichweite meiner Arme? Und das geht dort hinein. Analysieren: Was kann ich machen, was kann ich beeinflussen, was nicht? Und was sind eben meine Gefühle und Gedanken – und vielleicht gar nicht die von der Umwelt?
Lukas
Also du würdest ein Plädoyer gegen ein Verbot von Social Media für Kinder halten?
Esther
Ich finde, wir müssen dort aufpassen. Das ist ein gewaltiges Suchtmittel. Ich komme ja aus der Suchttherapie und kenne das. Ich weiss, es gibt Substanzen, es gibt Umstände, die sind unglaublich verführerisch, und die sozialen Medien sind das definitiv. Irgendjemand hat einmal schön gesagt: Du kannst schon versuchen, Selbstdisziplin zu wahren, aber auf der anderen Seite des Bildschirms hat es tausend Ingenieure, die gegen dich arbeiten. Ja, das wird irgendwo schon stimmen, aber wenn ich dann sage: Das ist wieder typisch, man will mich verführen, man quält mich –, bin ich wieder voll in der Opferhaltung. Wie gehe ich mit dem um? Wir müssen einen Weg finden.
Jenny
Ich würde dich gerne noch fragen, Esther – apropos mit dem Chef, mit der Chefin zu reden, wenn es einem nicht wohl ist aus irgendeinem Grund bei der Arbeit. Das ist auch ein Punkt, der mir aufgefallen ist: dass über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung sagt: Hey, ich hatte schon mal Angst, über eine Erkrankung, die ich hatte, mit meinem Arbeitgeber, meiner Arbeitgeberin zu reden, weil ich Angst hatte, dass das nicht auf genug Verständnis stösst – und dass die Leute das vor allem angeben, wenn es darum geht, dass sie psychische Krankheiten oder psychisches Unwohlsein nicht mit der Chefetage besprechen wollen. Wenn ich dir zuhöre – du sagst, man sollte sich das mehr trauen –, kannst du die Sorge der Leute trotzdem nachvollziehen, dass man das oft nicht macht?
Esther
Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Ich sage immer noch, es hat beides. Einerseits ist es immer noch ein Stigma, und andererseits ist es wie das Gegenteil. Ich höre von Arbeitgebern auch: «Hey, mir wird die ganze Verantwortung für die psychische Gesundheit meiner Mitarbeitenden überwälzt.» Und wenn ich mal ein bisschen mehr von ihnen verlange, dann sagen sie: Es ist unzumutbar, ich bin krank. Also man hört beides. Und auch da ist es mir wichtig, dass wir schauen, wo wir genau stehen. Es gibt Menschen, die sich nicht trauen, die nicht zu sich schauen. Und dann gibt es Menschen, die fast zu fest zu sich schauen und nichts von sich verlangen und von der Umgebung verlangen: «Du musst mich schonen.» Das gibt es auch. Und das macht es ja so kompliziert. Es gibt immer beides.
Lukas
Das Gesundheitswesen an sich war für dich eine Motivation, um mehr auf gesellschaftliche Themen einzugehen, mehr die Leute zu fordern oder Empfehlungen zu geben, wie sie mit ihrer eigenen Situation umgehen können. Das ist eigentlich dein Rezept gegen die Überlastung des Gesundheitswesens, wenn ich dich korrekt zusammenfasse.
Esther
Mir fällt einfach auf, dass es immer mehr Menschen gibt, die sich – müssen oder wollen – tragen lassen. Und dann gibt es immer weniger, die noch tragen können. Das ist einfach ein Fakt. Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, überall Finanzierungsprobleme. Und da muss man weder Mathematiker noch Statiker sein, um zu merken: Es geht nicht auf. Du kannst nicht auf eine immer dünner werdende Säule immer mehr obendrauf tun. Und ich finde, darum ist es einfach: Wenn wir ein gut funktionierendes Gesundheitswesen wollen, ist es unsere Aufgabe, auf die zu schauen, die noch tragen. Und nicht nur auf die Bedürfnisse von denen, die getragen werden wollen. Damit die, die tragen müssen, das noch können. Verstehst du, wie ich meine? Es ist so ein bisschen beides. Wir können nicht den Leuten, die tragen, einfach immer mehr aufladen und immer mehr verlangen. Und darum ist es wichtig, dass wir als Gesamtbevölkerung selber mehr tragen können. Es gibt leichte Situationen – eben der Umgang mit belastenden Lebenssituationen, mit Sachen unter der Diagnose –, dass wir das bei uns behalten. Und das Gesundheitswesen, das Versorgungsnetz, das wir haben, soll sich um die Sachen kümmern, wo es wirklich einen Arzt braucht, einen Psychologen braucht. Das ist für mich ganz etwas Wesentliches. Und auch dort sind die Empfehlungen in den sozialen Medien manchmal völlig konträr. Hey, Therapie tut allen gut. Wäre es nicht schön für dich? Ja, aber wir haben die Valenzen nicht mehr.
Jenny
Du sprichst die Situation von denen an, die im Gesundheitswesen arbeiten, gerade in der Psychiatrie. Und das ist auch ein sehr wichtiger Punkt, den wir in unseren Begleitforschungsstudien sehen, wo wir verschiedene Gesundheitsfachpersonen befragen, unter anderem zu ihren Arbeitsbedingungen. Und da ist es halt ein sehr grosses Thema, gerade in der Psychiatrie, dass die meisten sagen: Hey, wir haben einen ganz grossen Fachkräftemangel; dass sie das Gefühl haben, es gibt viele Abwesenheiten auch unter den Ärztinnen und Ärzten aus gesundheitlichen Gründen, weil sie nicht mehr können; oder dass nur 60 % sagen: «Ich habe das Gefühl, ich erfülle wirklich die medizinischen Anforderungen, die eigentlich zu meinem Beruf gehören würden.» Das sind da ganz verschiedenartige Probleme. Vielleicht doch nochmals auf der systemischen Ebene: Was hast du das Gefühl, könnte man da machen, um den Leuten in der Psychiatrie möglichst zu erleichtern – auch aus deiner Erfahrung?
Esther
Ich glaube, da sind wir uns alle einig: Es kann nicht sein, dass das Gesundheitswesen seine Mitarbeitenden krank macht – und das passiert jetzt. Und da gibt es halt ganz viele Aspekte. Weisst du, ich habe nicht die Lösung, aber es fällt mir auf, dass die formellen Anforderungen immer mehr zunehmen. Es fällt mir aber auch dort wieder auf, dass ein Idealzustand verlangt wird, den wir einfach auch nicht mehr so leisten können. Da sollte jeder Patient die maximale Versorgung bekommen. Wirklich, aber es gibt gar keine Leute mehr dafür. Und dann gibt es Situationen, wo es ans Eingemachte geht, weil es darum geht, ein Mensch ist, sagen wir, suizidal. Die Behandler – von denen wird erwartet, dass sie die Verantwortung übernehmen, dass dem Menschen nichts passiert –, und dann würde man erwarten: 1-zu-1-Betreuung rund um die Uhr, aber sie haben die Leute nicht mehr. Und gleichzeitig dürfen sie aber keine freiheitseinschränkenden Massnahmen machen, also die persönlichen Rechte des Patienten dürfen nicht eingeschränkt werden. Das sind so Unmöglichkeitskonstruktionen, wo man völlig ausser Acht lässt, wie die Situation wirklich ist; sondern auch dort geht man wieder vom Idealzustand aus. Und ich glaube, es würde uns allen helfen, wenn wir mal von diesem amerikanischen Bigger-, Better-, Faster-, More-Prinzip abkommen würden. Weisst du, der Gedanke, das Leben ist wie eine gerade Linie, die immer besser wird. Hey, das Leben ist ein Kreis. Und manchmal geht es hinten runter. Und das Leiden gehört dazu, und die Krankheit gehört dazu. Es ist nicht alles heilbar. Man kann nicht alles behandeln. Und statt dass wir einfach immer mehr versuchen würden – hey, wir müssen doch das irgendwie hinkriegen und Heilung hinkriegen –, dass wir vielleicht auch mehr uns eingestehen könnten: Es ist gar nicht möglich. Wir können nicht mehr kurativ arbeiten. Also arbeiten wir palliativ. Palliativ heisst nicht, wir lassen die Leute baldmöglichst sterben. Aber das heisst, wir akzeptieren: Hier bringen wir nicht eine hundertprozentige Heilung her. Und wir geben nicht das Maximale und spulen und spulen, sondern wir sagen: Also, wir kriegen es nicht hin. Dann ändern wir unsere Werte: Autonomie, Würde, Schadensminderung, Lebensqualität. Dann bauen wir darauf auf: Was braucht es, damit das möglich ist? Es gäbe eine Entspannung. Wenn wir schon begreifen würden, dass der Mensch stirbt, dass das passieren kann, würde uns das auch schon viel bringen. Also ich glaube, wir lügen uns alle gerne ein bisschen in die Tasche. Sowohl als Patienten, als Gesellschaft, aber auch als Gesundheitswesen. Wir haben hohe Ansprüche und wir haben das Gefühl, wir müssten doch das Ideal hinkriegen. Das schaffen wir nicht.
Lukas
Es gibt ja viele Situationen, wo die Ohnmacht wirklich nicht mehr mit dem eigenen Spielfeld zu tun hat, mit der Situation, in der man drin ist. Und die Ohnmacht ist irgendwie ganz stark spürbar im Moment, wenn es um die Unsicherheit auf dieser Welt geht. Wenn man quasi das Gefühl hat, dass Wut und Ohnmacht dominieren – das haben im Moment sehr viele Leute. Das Gefühl, dass es nicht gut geht. Was ist die Empfehlung im Umgang mit dieser Unsicherheit, mit der globalen Unsicherheit?
Esther
Ich finde es wichtig, dass wir unsere eigene Wahrnehmung unter die Lupe nehmen. Unser Verstand ist primär auf Existenzsicherung ausgerichtet. Er sieht immer eher das Negative und überbläht es und überinszeniert es. Wenn ich einen Sachverhalt mitbekomme, macht mein Hirn nicht ein Abbild der Realität, sondern es verzerrt ins Negative. In der Presse ist das noch potenziert. Das ist ein kollektiver Effekt. Wir verzerren alle das Negative. Mein Lieblingsbuch zum Thema ist «Factfulness» von Hans Rosling. Er hat das wunderbar hergeleitet. Wer das wissen möchte, soll dort nachlesen. Die Wahrnehmung, die wir ins Negative verzerren, ist wie ein Uralt-Programm von uns. Das ist wahrscheinlich Tausende von Jahren alt. Das ist ganz tief im Menschsein verwurzelt. Auch unsere Reaktionsmuster sind ein Uralt-Programm. Immer wenn Not am Mann ist, reagieren wir immer gleich. Mit Angst und Wut. Oder anders gesagt: Flucht oder Kampf. Das sind so unsere zwei Standard-Werkzeuge. Und das merkt man im Moment im Politischen sehr stark. Es ist Wut um uns, es ist Angst um uns. Das mobilisiert die Masse, das treibt die Leute ins Extrem. Und ich glaube, wir werden als Menschheit aufgerufen, so ein bisschen neue Werkzeuge zu entwickeln. Weil die alten Werkzeuge – Angst und Wut – super funktionieren bei akuten Raubtierangriffen, sage ich gerne.
Lukas
Fluchtreflex.
Esther
Ja. Also bei etwas, das unmittelbar lebensbedrohlich ist. Aber unsere heutigen Probleme, die sind langfristig, breitflächig, vernetzt und kompliziert. Und dort funktioniert es nicht gleich. Und dort müssten wir eben auch nicht nur für einen Sprint gerüstet sein – Adrenalin, Angst, Wut –, sondern für einen Marathon. Und das heisst, bessere Werkzeuge wären Zuversicht, Kooperation. Aber das müssten wir uns zuerst antrainieren. Und das ist nicht ganz einfach.
Lukas
Also auch Beteiligung, Beteiligung in der politischen – also dass wir dort auch in Kooperation zusammenarbeiten. Wir haben versucht, heute den ganz grossen Bogen zu schlagen. Wir haben nämlich versucht, zuerst über das Stressempfinden einer belasteten Gesellschaft zu sprechen, aber auch über die Überlastung, die es gibt, vielleicht bei jungen Leuten, psychische Gesundheit und in der Psychiatrie. Und wir haben am Schluss sogar noch die ganze Welt auf deine Couch legen dürfen.
Esther
Wenn schon, denn schon, gell?
Lukas
Volles Rohr. Vielen, vielen Dank, dass du bei uns Gast warst. Viel Erfolg mit deinem weiteren Ratgeberdasein. Herzlichen Dank.
Esther
Danke, Jenny.
Lukas
Ja, Jenny, was hast du mitgenommen heute?
Jenny
Ja, ganz viel Verschiedenes. Ich würde sagen, vielleicht am Ende sind mir zwei Punkte geblieben. Einerseits so ein bisschen das Stichwort Perfektionismus. Also ich habe das Gefühl, es ist wichtig, dass wir uns bewusst sind nach dem Gespräch mit Esther: Klar, wir möchten eine gute Versorgung. Es ist wichtig, dass wir gut auf uns schauen. Aber es hilft uns zum Teil auch nicht, wenn wir zu hohe Ansprüche an uns haben. Das kann in ganz verschiedenen Lebensbereichen sein, und es würde uns da vielleicht auch gut tun, mal einen Schritt zurückzugehen und sich zu überlegen: Hey, müssen es wirklich immer die 100 % sein? Und ich denke, das andere Stichwort, das mir vor allem geblieben ist, ist die Resilienz von jedem Einzelnen. Also auch da: Es bleibt wichtig, dass man sich Hilfe holt, wenn man sie braucht, und dass man auch offen über schwierige Themen reden kann, aber dass doch relativ viel Resilienz in jedem Einzelnen von uns steckt und dass man vielleicht in gewissen Fällen schon relativ weit kommt, wenn man bei sich selber anfängt.
Lukas
Ja, etwas Disziplin, was sie auch selber sagt, sich aber dabei nicht unbedingt die Peitsche zu geben – also dass man sich nicht mit dem Anspruch, alles gleich sofort zu schaffen, quält. Ja, das stimmt.
Jenny
Dann würde ich noch sagen: Wer es genauer wissen möchte – alle genannten Studien, alle Details dazu –, findet ihr unten in der Beschreibung.
gfs.echo #03, Psychiaterin Esther Pauchard: "Zu viel Anspruch, zu wenig Kapazität. Die 100%-Illusion im Gesundheitswesen"
gfs.echo #02, Sarah Wyss, Nationalrätin: "Präventionspolitik lohnt sich für PolitikerInnen nicht"
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Prävention, Psychiatrie, Krankenkassen: Realitätscheck im Schweizer Gesundheitswesen
Diese Woche haben Lukas Golder und Jenny Roberts Nationalrätin Sarah Wyss zu Gast. Sie reden über: Warum Prävention chronisch unterfinanziert bleibt und welche Anreize tatsächlich wirken. Wie die Kinder- und Jugendpsychiatrie entlastet werden kann – inklusive einer nüchternen Zwischenbilanz zum Anordnungsmodell. Und ob über 40 Krankenkassen Effizienz schaffen oder vor allem Verwaltung produzieren.
Im Podcast zitierte Studien:
Transkript gfs.echo #02
Sprecher
GFS Echo, der Podcast von GFS Bern. Mit Lukas Golder und Jenny Roberts.
Lukas
Herzlich willkommen zu GFS Echo, dem Podcast von GFS Bern zu den wichtigsten und brennendsten Themen in der Schweizer Politik. In dieser Staffel geht es um das Gesundheitswesen insgesamt. Bei der Bevölkerung stehen häufig die Kosten im Vordergrund. Heute reden wir aber mehr über die Gesundheitsversorgung – vor allem die psychiatrische – und auf der anderen Seite über Prävention. Ein Thema, das im politischen System nicht so oft diskutiert wird.
Jenny
Ja, da täuscht der Eindruck in Bezug auf die Bevölkerung nicht. Wir wissen aus dem Präventionsmonitor, dass die Leute in der Schweiz am ehesten auf der individuellen Ebene denken, wenn es um Prävention geht: Ich ernähre mich etwas gesünder, mache etwas Sport – solche Sachen. Und erst in zweiter Linie denken wir an strukturelle, politische Massnahmen, wobei die genauso wichtig wären.
Lukas
Heute wird es politisch. Wir haben eine Nationalrätin hier, die sowohl im Bereich Kosten – nämlich als Präsidentin der finanzpolitischen Kommission – aber eben auch im Bereich Gesundheitsversorgung tätig war, selber im Management in der Psychiatrie, und in der Kommission, die sich um Gesundheitsfragen kümmert. Nationalrätin Sarah Wyss von der SP, herzlich willkommen.
Sarah
Danke für die Einladung, ich freue mich darauf.
Lukas
Bei der Prävention kann man fast sagen, es steht ein Wunschtraum im Raum: dass man gleichzeitig die Kosten senken und die Versorgung, die Gesundheit der Bevölkerung, verbessern kann. Ist es ein Wunschtraum?
Sarah
Ich glaube, die Prävention ist wirklich für die Menschen da. Am Schluss wollen wir doch alle, dass die Menschen nicht krank werden. Und was du, Jenny, gesagt hast, ist richtig: Einerseits beginnt die Prävention im Alltag bei jedem. Aber man muss den Menschen ein Rucksäckchen mitgeben, damit sie sich auch so verhalten können. Dieses Rucksäckchen ist die institutionelle – oder ein Teil der institutionellen – Prävention. Da fällt mir auf: Beim Gesamtvolumen des Gesundheitswesens, also rund 90 Milliarden, geben wir gerade einmal 1,4% für Prävention aus. Für die Verwaltung geben wir 4,4% aus. Für Prävention, die all diese Kosten eigentlich reduzieren könnte, geben wir so wenig Geld aus. Da sieht man, dass das Interesse an Prävention leider nicht so gross ist. Vielleicht kann ich ausführen, warum. Alle sagen, die Menschen sollen gesund bleiben, sollen gesund werden. Für jeden einzelnen Leistungserbringer wäre das das Ziel. Aber das Gesamtsystem lebt von Krankheit. Wenn Menschen nicht krank sind, verdient fast niemand im Gesundheitswesen etwas. Das ist ein Grundproblem unseres Finanzierungsmodells.
Lukas
Aber da kommen die Kosten sehr schnell ins Spiel, weil Prävention, so wie du es beschreibst, kostet natürlich. Wir haben Screening-Programme, die zum Teil hinterfragt werden, und man weiss nicht mehr, wer warum zahlen soll. Man weiss: Im Prinzip muss man investieren, man soll mehr investieren. Wieso sollten die Kosten runtergehen?
Sarah
Die Kosten gehen nicht heute runter – das ist vielleicht das Problem der Politik. Wenn wir heute Vorsorgeuntersuchungen machen oder klassische Primärprävention, etwa Plakatkampagnen, ist es nicht so, dass ich sofort gesund werde oder heute nicht erkranke. Über eine längere Frist stärkt das die psychische Gesundheit und beugt z. B. Herz-Kreislauferkrankungen vor. Die Kosten werden viel später eingespart. In der Politik ist man darauf gedrillt, möglichst schnell einen Effekt zu sehen. Den sehen wir erst in 10, 20 Jahren. Die, die heute Politik machen, profitieren davon dann nicht mehr. Darum ist es wichtig, mit Studien zu zeigen, wie wirksam Prävention ist, damit man zumindest vom Kopf her sagt: Dort müssen wir investieren, damit Menschen gesund bleiben.
Jenny
Um die Sicht der Bevölkerung reinzubringen: Wir wissen, dass drei Viertel der Schweizer Bevölkerung das Gefühl haben, wenn wir mehr in Prävention investieren, könnten wir Milliarden einsparen im Gesundheitswesen. Würdest du das unterschreiben?
Sarah
Ja, absolut. Es ist einfach nicht unmittelbar. Es ist nicht so, dass wir heute investieren und das Geld heute gleich wieder zurückkommt. Es geht über eine längere Zeit. Ein anderer präventiver Ansatz ist etwa die Zuckerreduktion – freiwillig oder nicht. Da weiss man, es hat einen Effekt auf die Gesundheit. Das sind Massnahmen, die teilweise etwas kosten, teilweise Vorgaben an die Industrie oder Anreize für die Industrie sind. Das alles wird oft hinterfragt: Bei Industrievorgaben heisst es, man solle nicht reinreden; gibt man zusätzlich Geld aus für klassische Präventionsarbeit, fragt man: Bringt das etwas? Ich sehe ja morgen nichts. Und schlussendlich haben die Akteure – so toll sie sind – nicht unbedingt ein Interesse daran, dass Prävention wirkt. Das macht mich im Gesundheitswesen wirklich fertig. Alle, die einen Gesundheitsberuf gelernt haben, wollen, dass es den Menschen besser geht. Trotzdem ist unser Finanzierungssystem so, dass niemand ein finanzielles Interesse daran hat. Das ist absurd.
Lukas
Wenn man diesen Zustand – unter dem du offenbar selber leidest – in Kontrast setzt zu einem System, das vernetzt funktionieren soll, mit Akteuren, Kantonen, Bund: Nun reagiert der Bund mit Strategien, mit Vorstössen. Was wünschst du dir in diesem Bereich?
Sarah
Wichtig ist, dass Kantone, Gemeinden, Bund und alle Akteure zusammenarbeiten. Im Moment sind die Zuständigkeiten fragmentiert, das ist schwierig. Wir wohnen heute oft nicht am gleichen Ort, an dem wir arbeiten. Prävention muss kantonsübergreifend sein. Ich wünsche mir Strategien, die mit Expertinnen und Experten im Feld erarbeitet werden – und, falls nötig, gesetzliche Grundlagen, z. B. für Verbote oder zusätzliche Gelder. Da hakt es. Wir haben Strategien zu nichtübertragbaren Krankheiten, Sucht, Krebs – diverse Strategien. Aber das Parlament streicht dem Bund bzw. dem BAG das Geld zusammen. Wir haben tolle wissenschaftliche Arbeit, aber die Umsetzung ist nicht möglich, weil das Geld fehlt. Das ist absurd. Wir fordern immer neue Strategien – aber eine Strategie nur auf dem Papier nützt nichts. Wenn wir eine Strategie wollen, müssen wir sagen: Das hat ein Preisschild, und es muss uns das Geld wert sein.
Jenny
Ein anderer Punkt in der Präventionsstrategie 2040: Zusammenarbeit von Bund und Kantonen. In der Bevölkerung gibt es Wohlwollen für so eine Strategie. Gleichzeitig ist Prävention eher in der Kompetenz der Kantone. Bevormundet man die Kantone nicht mit bundesweiten Strategien? Wie siehst du das?
Sarah
Ich verstehe, dass es so wirken kann. Aber 24 verschiedene Präventionsstrategien machen keinen Sinn. Schon wegen der Ressourcen für Erarbeitung, Monitoring und Weiterverfolgung ist eine gemeinsame, übergreifende Strategie sinnvoll, in die alle einbezogen sind. Uns fehlt aber eine gesetzliche Grundlage für allgemeine Prävention auf nationaler Ebene. Bei Krebs oder Suizid gibt es Grundlagen, aber vieles fehlt. 2012 ist das Präventionsgesetz, wenn ich mich recht erinnere, im Nationalrat an einer Stimme gescheitert. Im Moment denkt man – etwa in der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Wissenschaft – laut über ein Gesundheitsgesetz nach. Wir müssen heute vieles über das Krankenversicherungsgesetz regeln. Prävention setzt idealerweise dort an, wo man noch nicht krank ist, mindestens die Primärprävention. Es wäre sinnvoll, dass man dafür nicht zuerst eine Diagnose braucht. Instrumente auf Bundesebene sind derzeit im Wesentlichen auf Strategien beschränkt, mit wenigen Ausnahmen. Ich hoffe, dass ein Gesundheitsgesetz kommt, in dem Gesundheit im Vordergrund steht – nicht Krankheit.
Lukas
Kommen wir zur direkten Versorgungssituation, mit deiner Erfahrung im Management psychiatrischer Kliniken. Da kommt viel zusammen. Gibt es in der heutigen Versorgungslage – trotz starkem Gesundheitswesen – echte Probleme? Viele deuten sich in der Psychiatrie: Versorgungsengpässe, Fachkräftemangel, eine neue Finanzierung, die nicht klar ist, erschwerter Zugang, und das Gefühl, die psychische Gesundheit, vor allem junger Frauen, stehe unter Druck. Wo siehst du die Probleme, und wo brauchen wir andere Lösungen?
Sarah
Ich will mit etwas Positivem anfangen, bei all dem, was negativ tönt: Die Enttabuisierung psychischer Probleme und Krisen finde ich extrem positiv. Man traut sich, Hilfe zu holen, schämt sich nicht mehr – früher hiess es despektierlich „in die Klapse“. Aber gewisse Bevölkerungsgruppen sind massiv belastet – bis in Krankheit hinein. Besonders bei Kindern und Jugendlichen gibt es einen Engpass, das weiss man. Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt offiziell als unterversorgtes Fachgebiet. Sie haben nun etwa eine Sonderregelung zusammen mit Hausärztinnen und Hausärzten – sie können schneller zugelassen werden. Das Problem ist damit noch nicht gelöst, aber es ist anerkannt. Neben der Unterversorgung sind auch die Kosten ein Thema: Die direkten Kosten sind das eine – Spitalaufenthalt, Therapie etc. Das andere sind volkswirtschaftliche Kosten, je nach Studie bis zu 7 Milliarden durch Ausfälle etc. Ich würde zwei Dinge unmittelbar machen: In den Schulen ansetzen – psychologischer Dienst, Sozialarbeit – damit Krisen früh aufgefangen werden und es gar nicht so weit kommt, dass junge Menschen ins System der Psychiatrie hineinkommen.
Lukas
Ist wieder Prävention, eigentlich?
Sarah
Genau. Das ist Vorsorge, Prävention, sicher Krisenintervention – und dort stehen zu wenig Mittel zur Verfügung. Das ist logischerweise nicht KVG-relevant, weil sie keine Diagnosen haben. Man soll auch nicht einfach diagnostizieren, sondern die jungen Menschen dort unterstützen. Das ist ein Hauptanliegen. Das andere sind Therapieplätze: Es gibt lange Wartelisten, regional sehr unterschiedlich – und je nach Diagnose ebenfalls. Gewisse finden fast niemanden, andere haben relativ schnellen Zugang. Da haben wir eine Ungleichheit der Zugänglichkeit – das ist gefährlich für unser System.
Lukas
Jetzt können Psychologinnen und Psychologen direkt, ohne Umweg über eine Psychiaterin, psychotherapeutische Leistungen erbringen, die von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt werden. Das war eine Massnahme angesichts der angespannten Lage. Wie sieht die Bilanz aus? Hat das geholfen, die Situation zu entschärfen?
Sarah
Die Auswertung der Bilanz liegt noch nicht vor. Es würde dem Parlament gut tun, abzuwarten und dann zu analysieren. Im Moment verfällt man in Aktionismus und will schon wieder am sogenannten Anordnungsmodell schrauben. Wir wissen: Die Kosten sind gestiegen – rund 360 Millionen mehr. Aber das ist gewollt, weil die Versorgung besser werden soll. Wir wissen z. B. noch nicht, wie viel weniger Kosten dadurch bei den Psychiaterinnen und Psychiatern anfallen. Diese Wechselwirkungen kennen wir noch nicht. Gewisse sagen einfach: Es kostet viel – man sieht nicht, was man dafür bekommt. Darum bin ich dafür, zuzuwarten, bis die tiefgreifende Analyse da ist. Dann können wir sagen: Es hat gewirkt – oder es braucht Anpassungen.
Jenny
Ja, es wird noch detaillierte Analysen geben. Gleichzeitig gibt es Monitorings zum bisherigen Stand. Man weiss: Der Systemwechsel hat dazu geführt, dass mehr Leute in Behandlung kommen, die Inanspruchnahme ist höher. Bis jetzt sind es durchschnittlich rund 131 Millionen Mehrkosten pro Jahr. Du sagst: Abwarten, wie die Gesamtbilanz aussieht. Du würdest hier noch nicht Alarm schlagen?
Sarah
Nein. Bei der Kostendiskussion muss man sich immer fragen: Was ist der Mehrwert? Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, mehr auszugeben. Es kommt darauf an, ob eine Leistung dahintersteht. Wenn es den Menschen danach besser geht, darf diese Leistung etwas wert sein. Wir reden vielleicht zu selten über Qualität und starren zu sehr auf die Kostenröhre. Wenn wir gute Qualität haben und Menschen gesünder sind, darf uns eine Kostensteigerung etwas wert sein. Wer das bezahlt, ist eine andere Frage. Ich schlage nicht Alarm wegen der Kosten – eher, weil der Bedarf steigt. Das bedeutet auch im Alltag: vielleicht ruhigere Zeiten einplanen, die psychische Gesundheit fördern, damit gar nicht so viele Krisen oder Krankheiten entstehen.
Lukas
Dieses Bewusstsein – zu merken, wie es einem geht – ist dir wichtig. Gut, dass mehr darüber geredet wird. Präventiv gefragt: Ist Digitalisierung hier eine Chance? Zum Beispiel KI-Coaches, wenn man Stress merkt – statt staatliche Programme und Finanzierungsansätze früh bei den Leuten ansetzen: Hilf dir selbst?
Sarah
Die Algorithmen hinter der KI sind für mich eine Blackbox. Ich weiss nicht, welche Informationen wie zusammengeführt werden. Gerade im medizinischen Bereich bin ich vorsichtig. Das heisst nicht, dass KI nicht genutzt werden kann. KI wird genutzt und kann noch stärker genutzt werden. Es gibt Apps, die entwickelt werden, Digitalisierung ist da und muss weiterkommen. Aber einfach in ChatGPT eingeben „Heute geht es mir nicht gut, was soll ich tun?“ – und es sagt „Geh spazieren“ – das ist nicht in jeder Situation angebracht. Es braucht spezialisierte, geprüfte Programme mit gesicherten Informationen – solche werden etwa von Universitätspsychiatrien entwickelt. Dort sehe ich grosse Chancen. Ein Thema, das wir nicht angesprochen haben: Das Anordnungsmodell kam nicht nur wegen der Versorgungssituation, sondern auch wegen des Fachkräftemangels. Wir haben zu wenig Ärztinnen und Ärzte. Wir müssen kreativ sein, um die Versorgung langfristig zu sichern.
Lukas
Von der Versorgung in der Praxis auf die Verfassungsstufe: Die SP plant zwei Initiativen. Viele Reformen sind am Laufen, und Reformen wie die Fallpauschalen von 2011 wirken erst jetzt so richtig. Ihr wollt trotzdem auf Verfassungsstufe eine Debatte starten. Ihr wollt Unterschriften sammeln. Angedacht sind zwei: einerseits Finanzierung, andererseits Einheitskasse. Zuerst zur Finanzierung: Die Grundidee – noch nicht definiert – ist, dass man vom kopfprämienfinanzierten Teil wegkommt, der im Sorgenbarometer so stark belastet. Was ist die Idee?
Sarah
Vielleicht zuerst: Die Einheitskasse ist eher eine gesundheitspolitische Vorlage, die Prämiendeckelung eine sozialpolitische – es geht um die Frage, wer zahlt. Unser Vorschlag: Prämien einkommensabhängig machen, ein Stück weit deckeln. 85% der Menschen sollen weniger Prämien zahlen, Kinder und Jugendliche gar keine. Familien entlasten, Kaufkraft stärken. Die restlichen ca. 15% zahlen etwas mehr, um das zu finanzieren. Die Details wären auf Gesetzesebene auszugestalten. Das entspricht dem Verfassungsauftrag, wonach jeder gemäss wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit besteuert wird. Die Krankenkassenprämie ist eine Art Steuer, weil alle sie zahlen müssen. Heute zahlt jemand mit 4’000 Franken im Monat gleich viel wie jemand mit 50’000 Franken. Diese Ungleichheit wollen wir beseitigen.
Jenny
Im internationalen Vergleich ist die Schweiz ein Sonderfall bei Versorgung und Finanzierung. Der öffentlich finanzierte Anteil der Gesundheitskosten ist so tief wie in keinem anderen OECD-Land. Verglichen mit nordischen Ländern liegt er dort bei 85% oder höher. Muss man in der Schweiz anders ansetzen?
Sarah
Wir haben mehrere Versuche gemacht, mit unterschiedlichen Vorzeichen. Die Prämienentlastungsinitiative wollte Prämienverbilligungen deckeln – es hiess, unklar sei die Finanzierung; sie wurde abgelehnt. Jetzt gehen wir mit einem neuen Ansatz in eine ähnliche Richtung, denn das Problem bleibt: Die Finanzierung ist extrem unsozial. Noch eine Zahl: Rund 11% des BIP geben wir für das Gesundheitswesen aus – vergleichbar mit anderen europäischen Ländern.
Jenny
Deutschland, Frankreich sind ähnlich.
Sarah
Und unser Kostendruck entsteht vor allem, weil die Finanzierung so unsozial ist und Ende Monat stark aufs Portemonnaie schlägt. Darum ist es richtig, dort anzusetzen. Wir versuchen es mit einer neuen Idee. Selbstverständlich bleiben die Prämienverbilligungen wichtig.
Lukas
Der Zugang zum System – das aus der Krankheitssicht gebaut ist – wird dadurch einfacher. Die Hürden werden geringer, und man fordert vielleicht noch schneller mehr Leistungen. Die Kostenproblematik könnte anders finanziert, aber akzentuiert werden.
Sarah
Das sehe ich nicht unbedingt so. Erstens steigen die Kosten, aber im internationalen Vergleich sind sie nicht übermässig hoch. Ich vergleiche es mit anderen Service-public-Leistungen: Bildung kostet Ende Monat auch nicht direkt mehr, und man konsumiert sie deshalb nicht „mehr“. Sicherheit dasselbe. Eine andere Finanzierungslogik führt nicht automatisch zu Mehrverbrauch. Parallel braucht es Gesundheitskompetenz, Prävention – also die richtige Inanspruchnahme von Leistungen und Orientierung, statt Dr. Google. Dafür braucht es ein Rucksäckchen – die Initiative kann das nicht leisten. Aber sie schraubt den „Konsum“ nicht hoch. Wenn man das so nennen will, bekämpft man ihn mit anderen Methoden.
Lukas
Wir haben einen Strauss von Ansätzen: Prävention, Themen in der psychiatrischen Versorgung, Digitalisierung mit Vorbehalten, Gesundheitskompetenz, Eigenverantwortung. Jetzt kommt zum fünften Mal die Idee einer Einheitskrankenkasse. Ist es zeitgemäss, das nochmals aufzurollen?
Sarah
Absolut. Wir müssen ehrlich sein: Die KVG-Leistungen sind obligatorisch, alle Patientinnen und Patienten bekommen die gleichen Leistungen. Es macht keinen Sinn, warum es dafür über 40 verschiedene Krankenkassen braucht. Einen neuen Anlauf halte ich für richtig. Wir geben 4,4% für Verwaltung aus – mehr als für Prävention. Dort können wir die Kosten senken, nicht massiv, aber spürbar. Die Einheitskasse löst nicht alle Probleme – sie ist ein wichtiges Puzzleteil, mehr nicht.
Lukas
Die Leute haben trotzdem den Eindruck, dass die Leistung nicht immer stimmt und es Unterschiede geben kann: wie und wofür bezahlt wird, welche Informationen in welcher Form. Man kann sich zusätzlich versichern – fällt das weg? Diese Angst gibt es.
Sarah
Zusatzversicherungen werden überhaupt nicht tangiert – die soll es weiterhin geben, für alle, die das wollen. Es geht um die Grundversicherung. Fatal wäre, wenn nicht alle Menschen bei jeder Krankenkasse die gleichen Leistungen bekommen – das widerspricht dem KVG. Ich weiss, dass es heute anders ist. Daran muss man arbeiten. Gerade das spricht für eine Einheitskasse: Alle erhalten die gleichen, gesetzlich vorgegebenen Leistungen. Da gibt es wenig Ermessensspielraum, höchstens Interpretationsspielraum.
Jenny
Du hast gesagt, die Idee ist nicht neu, man hat viel darüber abgestimmt. Im letztjährigen Krebsversorgungsmonitor sahen wir: Die Zustimmung in der Bevölkerung ist höher als früher. Zusammen mit der Spitalplanung gehört die Einheitskasse zu den Ideen, denen die Leute den grössten Kosteneffekt zutrauen. Ist jetzt der richtige Zeitpunkt – was ist anders als früher?
Sarah
Ich kenne viele, die früher Nein gestimmt haben und jetzt sagen: Jetzt reicht es. Mit den Löhnen, mit der Selbstbedienungsmentalität gewisser CEOs und Spitzen der Krankenkassen – nicht aller – wächst der Unmut. Dazu kommt die Macht der Kassen, Leistungen zu verweigern. Das empfinden viele als Willkür: Das kann es nicht sein. Warum über 40 Krankenkassen, wenn alle das Gleiche zahlen müssen? Da hat sich etwas verändert – auch bei sehr liberalen Leuten, die heute sagen: Im OKP-Bereich, selbstverständlich – das ist gesetzlich vorgegeben. Dieser Wandel bestätigt mich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Aber nochmals: Eine Einheitskasse ist richtig und wichtig, löst aber nicht alle Probleme.
Lukas
Wir haben die grossen Fragen des Systems angediskutiert: Prävention – eher Richtung Bundeszuständigkeit, die du forderst. Psychiatrische Versorgung – wo genau hinschauen. Mehr Daten, andere Finanzierungswege – vielleicht ein anderes Kopfprämiensystem. Wir haben die Kassen diskutiert, Verfassungs- und Gesetzesstufe, neue Zuständigkeiten des Bundes. Am Schluss setzt sich oft die bürgerliche Mehrheit durch, mit föderalistischen Argumenten. Wie schlägst du die Brücke, um diese Mehrheit zu erreichen?
Sarah
Seit Corona ist vielen klar geworden, dass Gesundheit an der Kantonsgrenze nicht Halt macht. Gewisse Dinge gehören auf Bundesebene. Ein Beispiel: Interkantonale Spitalplanung. Dazu habe ich 2021 einen Vorstoss gemacht. Niemand von den Bürgerlichen hat unterschrieben; SP und GLP haben unterstützt. Heute ist es im Ständerat mehrheitsfähig: Mit 40 zu 2 Stimmen – gegen die eigenen Kantone – wurde eine Motion überwiesen. Dinge, die früher aus föderalistischen Gründen nicht mehrheitsfähig waren, werden im Gesundheitswesen langsam mehrheitsfähig. Der Druck steigt: Fachkräftemangel, Kosten, es drückt den Menschen im Portemonnaie. Die Situation hat sich geändert – dadurch sind heute Dinge möglich, die vor zehn Jahren nicht möglich waren.
Lukas
Ein Thema, das vielleicht noch nicht so politisiert ist, ist Prävention; die psychiatrische Versorgung, wo wir vielleicht mehr Probleme haben, als wir meinen. Wir haben diskutiert, wie die Finanzierung sein soll. Wir haben die Einheitskrankenkasse und die Verfassungsvorschläge der SP besprochen. Es bleibt viel zu diskutieren. Danke für die politische Einschätzung, danke für den Besuch – und viel Erfolg auf dem weiteren Weg.
Sarah
Danke vielmals für die Einladung.
Lukas
Jenny, vielleicht ist die Bevölkerung in diesem Punkt fast schon weiter als die Politik. Viele wünschen sich mehr Koordination und neue Ideen, um die Kosten zu senken.
Jenny
Aus Sicht der Bevölkerung ist der Problemdruck da. Interessant ist, dass gewisse Ideen, die früher kaum mehrheitsfähig waren, heute offener diskutiert werden. Ich bin gespannt, ob sich die Bevölkerung bei Abstimmungen eher für einen Systemwechsel ausspricht oder für inkrementelle Veränderungen am jetzigen System. Es bleibt spannend.
Lukas
Ob es solidarischer oder freiheitlicher wird, wird sich zeigen. Politisierung zeichnet sich aber ab.
Jenny
Auf jeden Fall. Wer es genau wissen möchte: Alle Details zu den genannten Studien findet ihr unten in der Beschreibung.
gfs.echo #02, Sarah Wyss, Nationalrätin: "Präventionspolitik lohnt sich für PolitikerInnen nicht"
gfs.echo #01, Katrin Crameri, BAG: "Wir wollen weg von digitalen Silolösungen"
Veröffentlicht am: Dauer:
Digitalisierung im Gesundheitswesen – mit Katrin Crameri (Fachleiterin DigiSanté, Co-Abteilungsleiterin Digitale Transformation beim BAG)
EPD, E-Rezept, Praxisinformationssysteme: Wo es heute hakt – und wie es besser wird. Lukas Golder und Jenny Roberts sprechen mit Katrin Crameri über den Gesundheitsdatenraum: welche Basisdienste der Bund aufbaut, welche Standard- und Interoperabilitätsvorgaben kommen und warum mittelfristig auch gesetzliche Verbindlichkeit nötig ist – sie schafft Investitionssicherheit für Softwareanbieter und entlastet Fachpersonen. Konkrete Anwendungsfälle (E-Rezept, Medikationsplan, Spitalaustrittsbericht) zeigen, wie weniger Doppelerfassung und weniger Medienbrüche zu mehr Patientensicherheit führen.
Im Podcast erwähnte Studien:
Transkript gfs.echo #01
Lukas
Ja Jenny, heute haben wir ein Thema, bei dem ich, eigentlich seitdem ich mich darum kümmere, auch bei gfs.bern, viel Hoffnung drin habe. Aber manchmal ist es fast ein bisschen hoffnungslos. Das Thema ist Digitalisierung im Gesundheitswesen. Meine Hoffnung zum Beispiel ins EPD hat sich ein bisschen zerschlagen. Ich bin schon beim Onboarding-Prozess irgendwie nicht mehr weitergekommen. Da hat's mich immer rausgeschmissen in diesem Prozess. Ich habe nicht einmal ein EPD. Ich habe das Gefühl, die Schweiz ist hinten drin, wir kommen nicht vorwärts.
Jenny
Also ich würde fast erwarten heutzutage, dass das meiste digital läuft im Gesundheitswesen. Vielleicht liegt das auch an meiner Generation. Aber ich kriege tatsächlich nicht so wahnsinnig viel davon mit. Also ich habe das Gefühl, es gibt schon noch viele Bereiche, wo man da Luft nach oben hat. Und ich kenne jetzt eher wenig Beispiele von Sachen im Gesundheitswesen, die schon rein digital ablaufen.
Lukas
Ich glaube, dieser Eindruck von dir täuscht nicht. Wir haben aber jetzt eine Person, die geeignet ist, um das Thema nochmal ganz neu aufzurollen, um das Thema nochmal neu anzupacken und zu diskutieren. Das ist Kathrin Crameri. Sie ist die Fachleiterin von DigiSanté und Co-Abteilungsleiterin digitale Transformation beim Bundesamt für Gesundheit. Herzlich willkommen. Und wieso ausgerechnet die Digitalisierung in diesem Schweizer Gesundheitswesen, das so kompliziert funktioniert?
Katrin
Also der digitale Wandel, der vollzieht sich heute ja schon in allen unseren Lebensbereichen. Und die Frage ist doch eigentlich nur, inwiefern wollen wir ihn aktiv mitgestalten und ausrichten? Also ausrichten so, dass er einerseits mit den Werten und Prinzipien unserer Gesellschaft vereinbar ist und andererseits aber auch so, dass die entstehenden digitalen Lösungen unseren Bedürfnissen, unseren Erwartungen auch tatsächlich entsprechen und für uns als hilfreich wahrgenommen werden. Im Gesundheitswesen ist das so, dass ja hauptsächlich die Patientinnen und Patienten oder Bürgerinnen und Bürger von diesem digitalen Wandel profitieren sollen. Vor allem mit Blick auf eine noch bessere Gesundheitsversorgung oder noch bessere Prävention. Aber auch zum Beispiel mit Blick auf eine höhere Patientensicherheit. Gleichzeitig sollen ja aber auch unsere Gesundheitsfachpersonen und andere Akteure, die im Feld aktiv sind, durch die Effizienzsteigerung, die wir durch Digitalisierung ins System bringen, profitieren. Ihre Arbeit soll erleichtert werden. Wir wollen, dass sie wieder Zeit haben, sich um die Patientinnen und Patienten zu kümmern und nicht so viel Computerarbeit leisten müssen, nicht so viel administrativen Overhead haben, weil die Computer ihnen die Arbeit abnehmen, wenn wir das sauber digitalisiert haben.
Lukas
Jetzt ist die Schweiz ein bisschen im Hintertreff, oder?
Jenny
Ja, also eben, du sprichst es ja schon an, aber Digitalisierung, das passiert sowieso in den Schweizern. Wir wissen, wie du auch sagst, Lukas, aus den Daten vom eHealth-Barometer, die Bevölkerung ist sehr offen für Digitalisierung, auch im Gesundheitswesen, aber aktuell hat nur so ein Viertel das Gefühl, dass wir da schon weit vorgeschritten sind. Hast du auch den Eindruck?
Katrin
Ja, ich habe leider auch den Eindruck, das ist sicher so, dass die Schweiz in vielen Bereichen schon sehr gut digitalisiert ist. Also wir haben etliche wirklich gute, wirksame digitale Lösungen am Start. Man denkt natürlich auch an die heutigen Technologien im Spital oder wie wir behandelt werden. Das ist ja alles digital, diese Roboter, die es dort gibt und die Medizinsysteme. Aber es ist tatsächlich so, dass diese digitalen Lösungen, die bestehen, ganz schlecht miteinander vernetzt sind. Und deswegen figurieren wir auch auf den untersten Ranglisten dieser E-Health oder Readiness-Indizes, weil eben diese fehlende Vernetzung wirklich das Problem ist, dass der Mehrwert der Digitalisierung auch bei den Leuten ankommt. Bei den Patienten natürlich auch am Ende der Kette, aber vor allem auch bei den Gesundheitsfachpersonen, die das eher als mühsam und aufwendig empfinden. Wir sprechen da von Silo-Lösungen. Also Silo-Lösungen sind Lösungen, die in einem bestimmten Setting sehr gut funktionieren, aber sobald man über das Setting rausgeht, funktionieren sie schon wieder nicht mehr. Ein Beispiel wäre, ich kriege ein elektronisches Rezept auf mein Smartphone geschickt und es gibt aber jetzt nur ganz spezielle, ganz spezifische Apotheken, wo ich das einlösen kann. Wenn ich nicht neben so einer Apotheke wohne, ist der Mehrwert von so einem elektronischen Rezept für mich nicht vorhanden. Anderes Beispiel ist, dass diese Praxisinformationssysteme, also die IT-Systeme, die die Patientendaten managen in den Praxen oder auch in den Kliniken, dass diese Informationssysteme nicht fähig sind, Informationen untereinander auszutauschen. Das heisst, die passen nicht zusammen. Das heisst, es ist immer bei zum Beispiel einer Überweisung von meiner Hausärztin, die mich ins Spital überweist, muss immer händisch dazu getan werden, eine E-Mail zu öffnen, dort Dokumente anzuhängen, PDFs anzuhängen, das dann zu schicken. Und die andere Person, die es empfängt, die macht diese PDFs auf und tippt daraus die Informationen in ihr Informationssystem ab. Redundant, ineffizient und wir sind im 2025 und eigentlich könnten wir das viel besser. Also diese Vernetzung dieser Systeme hinzukriegen, dass sie miteinander kommunizieren und das automatisiert werden kann. Das ist das Stichwort, oder? Dass Computer die Arbeit abnehmen, die die Menschen im Moment noch machen.
Lukas
Von Software zu Software interagieren und jetzt kommt der grosse Hammer, jetzt haben wir 390 Millionen Franken für DigiSanté. Ein Programm, das sehr viel vereinen will und genau in diesem Kern bei diesem Problem anpacken will. Was passiert jetzt mit diesem Programm?
Katrin
Also, die DigiSanté hat diesen Verpflichtungskredit bekommen, oder? 390 Millionen Franken. Das ist wie zusätzliches Geld, was der Bund jetzt investiert in ein Programm, was die Schaffung eines digitalen, effizienten, patientenorientierten, vernetzten Gesundheitswesens nach vorne bringen soll oder. Da Schwung reinbringen soll. Einerseits haben wir die Aufgabe jetzt dort auch Dinge zu entwickeln, neu zu entwickeln, wie zum Beispiel... digitale Lösungen, die wir in der Bundesverwaltung im Einsatz haben oder wo die Leute draussen Daten reinliefern müssen, die bei uns ankommen müssen. Dort muss harmonisiert werden. Wir wollen das Leben auch für die Personen, die beim BAG Daten eingeben müssen, aufgrund von irgendeiner gesetzlichen Grundlage erleichtern. Und diese Harmonisierung, also diese Anforderungen an, wie können wir in irgendeiner Form so normieren, dass wir zu einem effizienteren Arbeiten kommen. Genau diese Anforderungen wollen wir natürlich auch für das gesamte Gesundheitswesen formulieren. Und das machen wir nicht alleine. Wir haben dazu einerseits andere Vertreter der Bundesverwaltung mit an Bord bei DigiSanté. DigiSanté steht in der Verantwortung des Eidgenössischen Departments des Inneren. Aber wir haben in Ausführung, macht das nicht nur das BRG, sondern auch das BFS, das Bundesamt für Statistik. Wir haben das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation, BIT an Bord. Wir haben die Eidgenössische Finanzverwaltung an Bord, die Bundeskanzlei. Also wir sitzen da alle zusammen, inklusive der Kantone. Und wichtigerweise haben wir entschieden, dass wir die Branche, also die Branchenvertreter der Gesundheitsorganisationen da draussen, ganz eng in dieses Programm mit einbinden. Wir haben 45 Vertreter in diesem Gremium jetzt vertreten und wir arbeiten gemeinsam mit denen. Wir können das als Bundesverwaltung natürlich nicht alleine stemmen. Wir gehen jetzt in Vorleistung. Die Grundinvestition ist jetzt mal gegeben mit diesen 390 Millionen. Aber wir sind natürlich darauf angewiesen, dass das, was wir jetzt da bauen mit DigiSanté, dass das skaliert, dass das in der Branche tatsächlich aufgenommen wird, dass wir alle zusammen in die gleiche Richtung gehen. Dass die Jenny natürlich nachher nicht mehr das Gefühl hat, dass da einzelne Lösungen sind, aber irgendwie geht sich das nicht aus. Da ist keine Vernetzung da, sondern ich muss hier das machen und dort was anderes machen. Und ich frage mich, warum können die Systeme nicht untereinander kommunizieren, dass ich das nicht zweimal machen muss.
Lukas
Jetzt haben wir oft den Eindruck gehabt, wenn man so über DigiSanté diskutiert hat, wo es halt recht auch um abstrakte Sachen geht. Ja, jetzt haben wir eHealth, jetzt haben wir die Diskussion um das EPD, das Patientendossier, das irgendwo im Moment im Parlament steckt. Wir hatten eine Diskussion über Fax, wo man irgendwie Grippenmeldungen plötzlich auch Covid müssen wir... Es hat sehr viele Diskussionen gegeben. Wo gliedert sich das an? Manchmal hatte ich das Gefühl, das ist wie eine Architektur, die man jetzt noch drüber legt und darunter ist die Diskussion noch gar nicht fertig.
Katrin
Genau. Also E-Health oder wenn wir uns um das EPD kümmern oder auch um andere Beispiele sind E-Health zum Beispiel die Telemedizin, also die Ferndiagnose über Video und so weiter. Das sind alles digitale Abbildungen der heute bestehenden Gesundheitsprozesse oder der Prozesse im Gesundheitswesen. Das heisst digitale Unterstützungen der Prozesse, die es ohnehin schon gibt. Die digitale Transformation hingegen, die liegt nicht oben drüber. Wir setzen das Fundament jetzt sozusagen. Also der Grund, warum es so viele heterogene Silo-Lösungen gibt, ist, dass bis jetzt niemand Vorgaben gemacht hat. Jeder konnte so ein bisschen machen, was er wollte. Hat auch, wie gesagt, tolle Geschäftsmodelle, die da zutage kamen und die auch funktionieren, aber eben nicht im Zusammenspiel funktionieren. Und was wir mit der digitalen Transformation, mit DigiSanté jetzt vorhaben, ist, das Grundgerüst so auszustatten, dass mal alle auf diesem Fundament aufbauen können. Das heisst, wir werden im Rahmen von dem grossen Projekt im Gesundheitsdatenraum in DigiSanté Services bauen. Der Bund stellt sich in die Verantwortung, Services zu bauen, Infrastrukturkomponenten zur Verfügung zu stellen und zwar für alle. Das heisst, alle können die nutzen, nicht jeder muss das Rad nochmal erfinden. Wir nehmen da auch ganz viel Redundanz aus dem System, indem der Bund sagt, wir stellen das einmal für alle zur Verfügung und alle können sich da andocken. Gleichzeitig geht dieses Andocken nur, wenn wir Standardvorgaben machen oder wenn wir sagen, das ist der Stecker, also... Wenn man das jetzt mit so einem Ladekabel vergleicht, das muss alles USB-C sein. Ihr könnt da nicht mit 24 verschiedenen Adaptern kommen oder Steckern kommen, sonst funktioniert das nicht mit euren Systemen, aufbauend auf diesem Grundgerüst, sondern es muss sich ausgehen. Wir werden Standardvorgaben machen, Interoperabilitätsvorgaben machen oder welche Kommunikationskanäle zwischen den Systemen müssen bespielt werden können, damit dieser Austausch möglich ist. Und auf diesem Grundgerüst dann... kann natürlich die Branche mit allen Lösungen, die da kommen, Applikationen, Systemen, modulieren und sagen, jetzt gibt es ein grosses Ganzes. Weil jetzt kann endlich das elektronische Rezept, was ich bekommen habe, tatsächlich in allen Apotheken eingelöst werden. Oder ich kann tatsächlich das Patienteninformationssystem von meiner niedergelassenen Ärztin kann tatsächlich mit dem anderen automatisch Daten austauschen. Das passiert jetzt schon, dieser Datenaustausch. Es ist auch jetzt schon alles elektronisch, aber es sind wahnsinnig viele Medienbrüche im Spiel. Man muss eine E-Mail aufmachen, man muss das System aufmachen, man muss aus dem System was abtippen in ein anderes System, weil diese Vernetzung nicht gegeben ist. Und das ist der Kern von DigiSanté.
Jenny
Wir wissen ja auch aus der Befragung der Gesundheitsfachpersonen, wie du so schon sagst, dass die meisten vor allem viel Potenzial für Verbesserung sehen, wenn es um die externe Vernetzung geht. Also z.B. zwischen Ärztinnen und Ärzten im Spital, mit anderen Institutionen, oft mit Hebammen z.B. oder mit Pflegeheimen. Wenn ich die richtig verstehe, ihr setzt eigentlich genau dort an, dass das in Zukunft besser ausgesehen wird für die Gesundheitspersonen in der Praxis.
Katrin
Ja. Ganz genau. Also wir wollen wegkommen von diesen zusätzlichen administrativen Belastungen, sage ich jetzt mal. Also wenn man zum Beispiel zur Physiotherapeutin überwiesen wird, wäre ja schön, würde dort gleich mit überwiesen werden. Was ist eigentlich mein Problem? An was muss sie eigentlich arbeiten, wenn ich zu ihr in die Therapie komme? Häufig geht das halt, da kommt dann die Überweisung und dann geht man zur Physiotherapeutin, die sagt, und was fehlt dir? Und ich sage, das wäre ja schön, hätte ich dann noch das CT oder das MRI oder was auch immer, gerade dort, oder? Und das ist so ein bisschen die Idee dieses Gesundheitsdatenraums, dass wir diese B2B, diese Business to Business, also jetzt von meiner Hausärztin zur Physiotherapeutin oder ins Spital oder zu Spitex, dass wir diese Prozesse so nahtlos hinkriegen, so medienbruchfrei hinkriegen, dass die Informationen, die einmal ohnehin schon eingegeben wurden in irgendeinem System, nicht nochmal eingegeben werden, sondern tatsächlich von Computer zu Computer ausgetauscht werden. Und dann hat man eben diese Probleme ausserhalb von seiner Organisation, dass sie mit denen nicht gut kommunizieren kann, immer noch mal das Telefon machen muss, immer noch mal nachfragen muss. Das hätten wir damit eliminiert und können recht viel Effizienz dadurch ins System bringen.
Lukas
Und hoffentlich auch Effektivität. Das Stichwort ist ja integrierte Versorgung. Das heisst, dass es zwischen den verschiedenen Akteuren auch in der richtigen Qualität der Daten fliessen kann und dass man die Informationen auch als Patientinnen und Patienten hat und immer ein wenig mitverfolgen kann, wie der Pfad weitergeht, wenn ich z.B. in die Physiotherapie wechsle. Das wäre ja schön, würde auch ein wenig Qualität geben. Was aber jetzt schon angesprochen ist, sind die 45 Organisationen, also die verschiedensten Leistungserbringer, die vielfach einfach für ihre eigenen Interessen geschaut haben. Jetzt braucht es eben ein neues Umdenken, es müssen Daten irgendwo eingegeben werden, die dann wirklich direkt, transparent, vollständig am anderen Ort gelesen werden können. Und mich dünkt schon noch, dass das Vertrauen noch nicht grundlegend zwischen Akteuren vorhanden ist. Was kann das System, was kann DigiSanté hier beitragen, dass das Vertrauen gestärkt wird zwischen den Akteuren?
Katrin
Es ist ganz wichtig anzumerken, dass die DigiSanté nicht die Regeln ändert, oder? Es werden jetzt nicht, es kriegen jetzt nicht plötzlich Leute Zugang zu Daten oder Institutionen Zugang zu Daten, die die vorher nicht sehen durften. Die Regeln bleiben die gleichen. Wir versuchen nur die Grundlage zu schaffen, dass der digitale Austausch besser funktioniert. Das heisst, man muss im Prinzip keine Sorge haben, dass DigiSanté jetzt alles den gläsernen Patienten schafft und diese Daten für alle einsehbar sind. Die Prozesse dass Daten von A nach B geschickt werden. Die bleiben bestehen. Sie werden nur nicht mehr geschickt von Hand per E-Mail, sondern sie können im System ausgetauscht werden. Dieser Gesundheitsdatenraum hat dafür auch eine Governance in place, wo wir tatsächlich sagen, wir definieren, wer darf was, zu welcher Zeit, unter welchen Bedingungen. Wir tracken, wir loggen. Das heisst, jeder Zugriff auf Daten, jeder Transfer von Daten wird ganz genau nachvollziehbar sein. Und eben auch insofern sehr transparent für mich als Patientin. Vorher wusste ich natürlich nicht, wenn meine Hausärztin mich überweist und dort eine E-Mail schickt mit lauter Dokumenten, die kam nicht cc zu mir, oder? Jetzt habe ich die Möglichkeit, über diesen Gesundheitsdatenraum zu sagen, ich hätte noch gerne eine Kopie davon ins EPD. Das EPD ist ein integraler Bestandteil dieses Gesundheitsdatenraums, wo normalerweise B2B kommuniziert wird. Aber ich als Patientin habe immer die Möglichkeit, weil die Daten ja elektronisch, digital vorhanden sind, dass ich diese Kopie auch bei mir noch habe. Das stärkt natürlich... das Empowerment der Patientinnen und Patienten, dass die sich mehr beteiligen können an diesen Prozessen, die rund um sie herum in der Gesundheitsversorgung passieren. Dass sie eben auch diese Daten haben und mit denen auch woanders hingehen können, was wir heute ja auch häufig vermissen. Und diese Prozesse haben im Prinzip einfach dann für alle einen gewissen Gewinn. Die Gesundheitsfachpersonen bekommen mehr Effizienz ins System. Die Patientinnen und Patienten kriegen im Prinzip viel mehr mit. Also das heisst, die Prozesse werden transparenter. Und dadurch, dass wir das jetzt in einer gesicherten Umgebung machen, ist natürlich auch die Sicherheit viel grösser diesen Daten gegenüber, wie wenn man eben zum Beispiel das dann über private E-Mail-Accounts von A nach B schickt, was ja heute durchaus immer noch passiert. Oder dass wir sagen, das ist alles in einem kontrollierten, sicheren Umfeld, wo Höchststandards an Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet werden.
Jenny
Ich glaube, du sprichst einen Punkt an, der auch für die Bevölkerung extrem wichtig ist, die Vertrauensfrage. Und dort finde ich, es ist ganz spannend zu sehen, in den Daten einerseits das Grundsatzvertrauen ist um in der Bevölkerung oder zumindest bei einer Mehrheit, dass man die eigenen Gesundheitsdaten digital speichert. Hingegen, man sieht noch sehr viele Unterschiede, je nachdem, welcher Akteur es geht. Und die hast du jetzt zum Teil auch schon erwähnt. Aber die Leute schauen es halt anders an. Je nachdem, ob es darum geht, teile ich meine Gesundheitsdaten mit behandelnden Ärzten und Ärztinnen oder mit anderen Institutionen, beispielsweise Krankenkassen oder auch private Unternehmen, ist das Vertrauen halt einfach weniger hoch. Wie kann man am besten mit dieser Herausforderung umgehen?
Katrin
Also im Prinzip ist es ja heute auch im EPD schon so geregelt, dass ich entscheiden darf als Patientin, wer darf, mit wem sollen die Daten geteilt werden, oder? Und die DigiSanté macht im Prinzip auch nichts anderes, als die bestehenden Erlaubnisse sozusagen zu respektieren, was darf die Kasse sehen, was darf die Ärztin sehen, was darf der Physiotherapeut sehen, etc. Wir machen es nur expliziter. Also das heisst, wir haben ein System, wo ganz genaue Regeln greifen und wo dann die digitalen Datenflüsse zwischen denen, die die Erlaubnis haben, die Daten zu sehen, auch gesehen werden können. Das muss man der Bevölkerung natürlich klar machen. Also sie müssen uns insofern vertrauen oder auch ihren Gesundheitsfachpersonen vertrauen, zu sagen, dass da jetzt nicht eine grosse Änderung des Systems kommt, sondern dass wir die gleichen Prozesse, die heute schon laufen, einfach auf digital umschalten. Wenn wir um die Weiterverwendung dieser Gesundheitsdaten zum Beispiel zu Forschungszwecken reden, oder? Das ist wieder was anderes. Aber dort werden, und das ist auch heute schon so, entsprechend der gesetzlichen Vorgaben, dort werden die Daten anonymisiert. Das heisst, die Daten, die weitergegeben werden, zum Beispiel für Forschungsprojekte, da können auch Versicherer mit beteiligt sein. In diesen Datensätzen kann ich mich als individuellen Patienten nicht wiederfinden, sondern das ist einfach eine Aggregation von Daten, wo ich als Einzelperson nicht mehr erkennbar bin. Die sind anonymisiert.
Lukas
Wenn es in den Alltag geht von diesen Lösungen, von den digital transformierten Lösungen, die alle vernetzt miteinander zusammenarbeiten können, dann ist eine Grundangst, vor allem von den Akteuren, vor allem von den Ärztinnen und Ärzten, dass man im Prinzip noch weitere administrative Aufwände hat, weil man muss die Daten in der gewünschten Qualität wirklich aufbereiten. Und wir wissen, dass gerade sie, aber auch andere Akteure extrem unter administrativer Last leiden. Es muss nicht unbedingt eine behördliche Vorgabe sein, es kann beispielsweise eine Krankenkassennachfrage sein. Aber das ist die grosse Angst, die ich spüre, dass man neue Softwarelösungen kaufen muss, neue Antockungslösungen, also Schnittstellen bauen muss von sich aus und Daten aufwendig eingeben muss. Wie kann das Programm dort entgegnen?
Katrin
DigiSanté hat ja eine Laufzeit von zehn Jahren. Das heisst, wir reformieren jetzt auch nicht das gesamte System und sagen dann, morgen muss jeder ein neues Software-System kaufen, was eben zum Beispiel diese Schnittstellen bewirtschaften kann, oder? Sondern wir versuchen, schrittweise vorzugehen, wie das auch sehr erfolgreiche andere europäische Länder gemacht haben, die jetzt viel, viel weiter sind als wir in diesem E-Health-Bereich, dass wir sagen, wir sprechen vor allem ja auch die Systemhersteller an, gar nicht die zum Beispiel niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die mit ihrem System hoffentlich geht so zufrieden sind und sagen, ich möchte das unbedingt nicht tauschen, mich geht es gerade daran gewöhnt, sondern wir versuchen, dass die Systemhersteller mit uns gemeinsam diesen Gedanken gerichtet, alle in die gleiche Richtung gehen, vorwärts entwickeln, zu sagen, mein System, die entwickeln das ja permanent weiter, ihre Software-Systeme. Nur bis jetzt in alle Richtungen und nicht in eine Richtung. Die Digisanté versucht, die Richtung vorzugeben. Das heisst, wir versuchen mit denen gemeinsam zu entscheiden, welches ist die gute Richtung, was sind die Standards, die erfüllt werden müssen, die diese Systeme liefern können. Und dann wird die Weiterentwicklung dieser Systeme in diese Richtung vorangetrieben. Und irgendwann kommen wir natürlich an den Punkt, wo wir sagen, jetzt ist es schön fertig mit der Freiwilligkeit. Dann legiferieren wir das natürlich auch, giessen das in Gesetze. Und das ist ganz wichtig, da geht es nicht um Kontrollen, oder in irgendeiner Form, um die Leute zu bevormunden, sondern es geht darum, dass diese Softwareentwickler ja auch eine Investitionssicherheit brauchen. Wenn ich denen heute sage, das ist der Standard, den dein System bedienen muss und ich ihnen morgen sage, das ist doch ein ganz anderer, dann können die natürlich nicht planen, dann können die nicht effizient ihre Dinge nach vorne bringen. Also brauchen die Planungssicherheit, Investitionssicherheit, indem sich der Bund und die Branchenmitglieder committen und sagen, in die Richtung wollen wir gehen und wir schreiben das auch in ein Gesetz, sodass ihr wisst, für die nächsten zehn Jahre ist das die Richtung. Ihr müsst keine Angst haben, dass der Wind übermorgen wieder dreht.
Jenny
Um ein paar konkrete Beispiele aus dem Alltag der Gesundheitsfachpersonen zu nennen. Wir wissen, das ist für die eine sehr hohe Priorität, unter anderem, dass man in Zukunft digital Rezepte und Medikationsdaten austauschen kann oder dass das auch eine hohe Priorität hat, was Laborberichte, Austrittsberichte usw. anbelangt. Könnt ihr also hoffen in Zukunft, dass die Sachen schnell besser werden, dank dem Programm DigiSanté?
Katrin
Richtig, das ist so. Also wir haben ja natürlich auch mit ganz vielen Leuten vorher gesprochen, bevor wir uns auch so auf die Prioritäten geeinigt haben, gemeinsam mit unserem Branchengremium. Und dort kommt immer wieder der E-Medikationsprozess oder der steht ganz oben auf der Liste. Es gibt auch dort super Lösungen am Start, sind aber auch Insellösungen, Silolösungen.
Lukas
Das Epic, das zum Beispiel jetzt die Inselgruppe eingeführt hat, die haben eine Lösung, wo das zum Beispiel auch direkt in der Software möglich ist, ohne dass irgendwo der Staat da mitmacht, oder?
Katrin
Ganz genau. Epic hat das super gelöst, oder? Das ist Ende zu Ende der ganzen Medikationsprozess durchgedacht. Nur wenn ich jetzt von einem Hausarzt komme, wo ich, also Epic ist an der Insel, oder? Und im Lux noch und vielleicht noch in zwei, drei weiteren Spitälern in der Schweiz in Zukunft. Aber meine Hausärztin hat nicht Epic. Also das heisst, diese Lösung funktioniert dort, wo sie implementiert, ist sehr gut. Aber an den Schnittstellen und darüber hinaus, dann halt schon wieder nicht mehr. Das heisst, wir brauchen eine Lösung, die funktioniert. Oder wir brauchen mehrere Lösungen, wir können ganz viele Lösungen haben, aber die müssen im Zusammenspiel funktionieren. Das heisst, das Rezept, was die Insel mir elektronisch ausstellt, wenn ich das Spital verlasse, muss in der anderen Apotheke einlösbar sein. Das Rezept, was ich von meiner niedergelassenen Ärztin bekomme, muss eben auch dann im Spital als erkannt werden auf meinem Medikationsplan, das ist der Eintrag, dass mit diesen Medikamenten oder diese Medikamente nehme ich, wenn ich ins Spital eingeliefert werde. Das muss gesehen werden, oder? Und das meinen wir mit, die Systeme müssen miteinander kommunizieren können. Dafür braucht es nicht ein System, um Himmels Willen. Also wir wollen nicht, dass alle dasselbe System benutzen, sondern wir wollen, dass die Vielfältigkeit am Markt bestehen bleibt, aber diese Systeme sich nach zentralen Vorgaben richten, die in diesem Gesundheitsdatenraum angewendet werden und eben auch eingefordert werden.
Lukas
Ich habe das Gefühl, es ist eben gleichzeitig die digitale Transformation auf einem Weg, aber wie immer auch in solchen Prozessen der Kulturwandel. Was mir optimistisch stimmt, sind eben die 45, die mit eingehen können, mit einzahlen auf das, was in Zukunft kommt, dass der Kulturwandel auch stattfindet, weil am Schluss Sie soll auch Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden, sie soll mehr Kompetenz haben, sie soll mehr verstehen, was mit ihnen passiert. Sie gibt sich also nicht mehr einfach in die Abhängigkeit, zum Beispiel von Hausärztinnen und Hausärzten. Also da kann man gewissen Optimismus haben, dass das gleichzeitig passiert. Aber trotzdem, am Schluss muss ja, der Nutzen, du hast es am Anfang gesagt, irgendwo bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen, bei den Leuten, die Patientinnen und Patienten sind oder werden. Was ist deine quasi finale Botschaft von diesem Gespräch an die Bürgerinnen und Bürger? Was versprichst du ihnen?
Katrin
Also wir versprechen mit DigiSanté jetzt dieses Grundgerüst so zu bauen, dass die E-Health-Lösungen, die jetzt im Moment schon die Gesundheitsversorgung digital unterstützen und hoffentlich auch verbessern, dass die überhaupt möglich sind, dass die skalieren können, dass die vernetzt national funktionieren, was eben Jenny vorher gesagt hat, viele nicht tun. Und vor allem versprechen wir mit dem, was wir tun, dass wir auch zukünftige innovative Lösungen entwickeln, durch diese fundierte digitale Basis, die wir jetzt bauen, dass wir auch zukünftige Innovationen ins System einbringen können. Das ist ein bisschen so, wie wenn ich immer noch einen VHS-Kassettenrekorder zu Hause habe und mich wundere, dass ich die Filme der Streamingdienste nicht abspielen kann. Wir müssen uns weiterentwickeln, um von den neuen Innovationen zu profitieren. Wir können nicht Neues auf Altes aufsetzen. Das geht nicht. Auch mit Blick auf die künstliche Intelligenz, die in aller Munde ist jetzt. KI kann uns hier Arbeit abnehmen, kann den Gesundheitsfachpersonen Arbeit abnehmen, kann den Patientinnen helfen, besser informiert zu sein. Aber das funktioniert nur, wenn wir Systeme haben, wo wir diese KI-Komponenten auch sinnvoll integrieren können, wo das Grundgerüst schon steht, wo das digital schon etabliert ist. Und nur so können wir auch in eine zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung gehen, die auch in Zukunft Mehrwert zum Patienten bringt.
Lukas
Katrin Crameri, eine leidenschaftliche Kämpferin für den Boden zu bauen. Du nimmst sehr viel vor. Ich glaube, man hat sich sehr viel vorgenommen, sehr viel Luft geholt. Ich hoffe, du kannst die Luft behalten. Das hat meine Hoffnung mindestens gestärkt. Danke vielmals für das Gespräch, Katrin Crameri, und für den Besuch bei uns. Danke euch. Ja, Jenny. Jetzt, als wir da so gesprochen haben, du hast ja gesagt, du wünschst dir irgendwie ein bisschen mehr und ein bisschen mehr Energie, ein bisschen mehr Lösungen, die nachher am Schluss für dich auch einfacher sind. Hast du auch ein bisschen Hoffnung gefasst heute?
Jenny
Ja, also ich merke, es sind sicher noch viele Baustellen rum, oder? Also es ist ein schwieriger Prozess, es ist ein komplexer Prozess, aber es gibt mir schon ein bisschen Hoffnung, dass man sieht, hey, man fängt jetzt an, wirklich den Boden zu schaffen, dass man von dort auch hochskalieren kann. Und in dem Sinn habe ich schon die Hoffnung in ein paar Jahren, dass wir da deutlich weiter sein werden, als wir es heute sind.
Lukas
Haben wir ein bisschen Hoffnung gefasst. Danke vielmals.
Jenny
Genau. Und wer es genauer wissen möchte, die aktuellen Resultate von eHealth-Parametern sind online aufrufbar für alle, die es genau nachlesen möchten.