Eine Bilanz zur heutigen Wahl

22.10.2023 | Urs Bieri, GFS Bern

Es ist 21:45. Auch wenn es draussen dunkel ist, lichten sich die letzten Wolken und der neue Nationalrat präsentiert sich, mit wenigen verbleibenden Unsicherheiten in seinem neuen Gewand.

Wer vertritt im Bundeshaus Sicherheitsanliegen - Bild vom leeren Bundeshaus

Die SVP kann voraussichtlich in fast allen Kantonen zulegen und startet mit 9 zusätzlichen Sitzen in die neue Legislatur. Die Grünen unterziehen sich einer deutlichen Schrumpfkur und 5 Nationalräte. Die GLP folgt dieser Entwicklung und hat ebenfalls 6 Sitze weniger. Die SP profitiert von leichten Wachstum, verstärkt in der französischen Schweiz, und bleibt mit 2 zusätzlichen Nationalrät:innen zweitstärkste Partei in der grossen Kammer. Und aktuell streiten sich FDP und die Mitte um den Platz drei im Nationalrat, sowohl beim Wähleranteil, wie auch in Bezug auf die Sitz-Vorherrschaft. Die Auswertung des Fotofinish zwischen den beiden Parteien kann sich noch einige Stunden hinziehen. Neben Verschiebungen auf dem Taschenrechner zeigen sich einige Erkenntnisse, welche die Schweiz der nächsten 4 Jahren prägen werden:

  • Die Schweiz zeigt sich zumindest im Nationalrat rechtskonservativer als 2019. Das Thema Migration erwies sich einmal mehr als sichere Bank zur Mobilisierung ins rechtskonservative Lager. Zugpferd des Rechtsrutsches ist die SVP, verstärkt wird dieser durch zusätzliche Sitze Rechtsaussen. Auch wenn der rechte Block im Nationalrat ungebrochen keine Mehrheit hat, steht die Politik in der grossen Kammer die nächsten vier Jahre unter einem spürbar bürgerlicheren Stern.
  • Die SP darf sich durchaus kleine Gewinnerin nennen. Ein Sitzgewinn von 2 Sitzen ist zwar nicht berauschend, er ist aber mit einem guten und systematischen Wahlkampf und mit pointierten Positionen bei den Gesundheitskosten und dem Kaufkraftthema als Positionierungsmittel verdient erarbeitet.
  • Spannend ist die Entwicklung bei der Mitte. Die neubenannte Partei kann über die Summe aus CVP und BDP zulegen und spielt in den nächsten 4 Jahren die wichtige Rolle der Mehrheitsbeschafferin. Mit der verstärkten sozialkonservativen Ausrichtung der Mitte kann der Entscheid aus der Mitte durchaus nach Links oder rechts gehen, je nach Thema.
  • Die im Vorfeld erwartete grüne Flaute hat sich heute bestätigt, was sich an den deutlichen Verlusten bei der GPS und GLP symbolhaft zeigt. Der Mobilisierungssog des Klimathemas ist sichtbar verschwunden, nun staut sich im Pfingststau der Ärger auf die Klimakleber auf. Auch wenn das Klimathema wichtig bleibt, konkurrenziert es 2023 hart mit anderen Themen und stärkte damit Parteien mit anderen Themenschwerpunkten. Die Bremsspur wird die nächsten 4 Jahre im Nationalrat begleiten, Mittelinks kann sich in der grossen Kammer in Klimathemen für politischen Erfolg nur noch eine Handvoll Abweichler gegen Rechts leisten.
  • Vom Jahrhundertereignis Covidkrise bleibt schon kurze Zeit danach gar nichts mehr. Weder Mass-Voll noch Aufrecht können die Proteststimmung aus den Covidjahren in Sitze ummünzen. Ein gewisses Protestvotum bleibt allerdings auch in der neuen Legislatur stehen: MCG in Genf und die EDU in Zürich reisen mit drei zusätzlichen Sitzen nach Bern.
  • Und schlussendlich gehen die Bundesratswahlen insgesamt verstärkt aus den Nationalratswahlen hervor. Auch wenn die noch offenen Ständeratswahlen in verschiedenen Kantonen alles andere als unwichtig sind, drängen sich die grossen Wechselszenarien für die Bundesratswahlen aktuell nicht auf. Weder Grün noch Grünliberale kommen auch nur in die Nähe einer Legitimität für Bundesratssitze. Der Masterplan der Mitte, eine klare Sitz-Distanz zur grünen Anwärterin zu schaffen, ging augenscheinlich voll auf. Der marginale Vorsprung der Mitte gegenüber der FDP scheint zu klein um einen bestehenden Bundesrat abzuwählen, ein Bundeskanzlersitz als Gegengeschäft könnte die Mitte gut vertrösten.

Neben den Erkenntnissen auf Parteiebene gibt es Verliererinnen, über die bisher wenig gesprochen wurde. Die Frauen verlieren im Rahmen all dieser Verschiebungen 6 Sitze im Nationalrat und entfernen sich mit nun 79 Sitzen von der Geschlechterparität.


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Urs Bieri

Urs Bieri

Co-Leiter