VOX-Analyse zur Abstimmung im September 2022: Deutlicher Geschlechtergraben in allen Sprachregionen

11.11.2022 | Tobias Keller, GFS Bern

Die Abstimmung am 25. September 2022 hat Männer und Frauen zum Abstimmen bewegt. Generell galt die AHV-Revision als klar wichtigste Vorlage. Während Männer die AHV-Reform klar angenommen haben, haben Frauen sie klar abgelehnt. Es resultierte der grösste Unterschied zwischen den Geschlechtern aus allen verfügbaren Nachanalysen eidgenössischer Urnengänge.

Die zentralen Argumente für die Ja-Seite waren, dass die AHV-Stabilisierung dringend und notwendig sei sowie die Kosten nicht auf die nächste Generation abgewälzt werden dürfe. Für die Nein-Seite ging es vor allem darum, dass die AHV-Reform nicht auf Kosten der Frauen durchgeführt werden dürfe und diese Mehrkosten auch für Einkommensschwache und die Mittelschicht in der aktuellen Teuerung nicht tragbar sind. Die knappe Mehrheit des Stimmvolks hat schliesslich der AHV-Reform zugestimmt. Ausserdem zeichnet sich ein Trend ab, dass Onlinemedien-Nutzende vermehrt behördenkritisch abstimmen – wie auch bei der AHV-Reform. Die anderen beiden Vorlagen wurden hingegen abgelehnt: Die Massentierhaltungsinitiative hat ein strengeres Tierschutzgesetz erwirken wollen, doch für die grosse Mehrheit des Stimmvolks hat die Schweiz bereits ein genug strenges Tierschutzgesetz, und sie wollten nicht das Risiko eingehen, dass bei der aktuellen Teuerung die Preise für Fleisch weiter steigen. Die Verrechnungssteuer wurde ebenfalls abgelehnt. Das Referendum war erfolgreich, obwohl viele Stimmende der Vorlage eine geringe Bedeutung beimassen. Mitentscheidend für das Nein waren die Geschlossenheit der Linken und die konkret gegen die Wirtschaft formulierten Befürchtungen von Steuerausfällen auf Kosten der Normalbürger. Erneut zeigte sich ein vergleichsweise grosser Unterschied beim Stimmverhalten zwischen Männern und Frauen. Mit der Nein-Mehrheit setzten sich in diesem Fall die Frauen gegen die Männer durch. Dies belegen die Resultate der Befragung von 3’112 Stimmberechtigten der VOX-Analyse September 2022. Die Studie wurde von gfs.bern durchgeführt und von der Bundeskanzlei finanziert.

Massentierhaltungsinitiative: Aktuelles Tierschutzgesetz der Schweiz schützt Nutztiere gut genug

Die Massentierhaltungsinitiative fordert, dass das Tierschutzgesetz verschärft wird, unter anderem um eine tierfreundliche Unterbringung und Pflege von Nutztieren sowie kleine Gruppengrössen einzuführen. Die Gegnerschaft argumentiert, dass Nutztiere in der Schweiz schon sehr gut geschützt sind. Die Initiative wurde mit rund 63 Prozent vom Stimmvolk abgelehnt. Von Mitte-Rechts kam ein klares Nein. Sie vertrauen den Landwirten und wünschen sich grundsätzlich weniger Markteingriffe vom Staat. Für sie ist klar, dass das aktuelle Tierschutzgesetz ausreicht und die Umsetzung einen Preisanstieg zur Folge hätte. Die Ja-Stimmenden hingegen verorten sich links-grün und vertrauen Tierschutzorganisationen eher als der Bauernschaft. Für sie war entscheidend, dass das Tierwohl stärker geschützt wird, der Wandel vom Fleischkonsum vorangetrieben wird und damit auch ökologische Aspekte in den Vordergrund treten können. Der zentrale Streitpunkt der Ja- und Nein-Stimmenden war, ob nun das Tierschutzgesetz der Schweiz genügend streng ist – und zumindest das Stimmvolk hat diesbezüglich klar Ja gesagt.

AHV-Reform: Trotz einem Nein der Frauen wird das Frauenrentenalter erhöht und die AHV-Reform durchgeführt

Die AHV-Reform besteht aus zwei miteinander verknüpften Vorlagen: Erhöhung der Mehrwertsteuer einerseits und Anpassungen der Leistungen der AHV andererseits. Wäre eine der beiden Vorlagen gescheitert, wäre die ganze Reform gescheitert. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer trägt zur finanziellen Sicherung der AHV bei. Die AHV-Änderung betrifft die Anpassung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre. Die Gegnerschaft ist gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer, weil sie auch einen Teil der Gewinne der Nationalbank der AHV geben wollten, und gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters, weil selbige einseitig auf Kosten der Frauen geht. Das Stimmvolk hat beide Vorlagen angenommen (55% resp. 51% Ja-Anteil).

Bei diesen Vorlagen zeigten sich zwei Gräben: Geschlecht und Parteisympathie. Männer sagten mit 66 Prozent Ja zur Mehrwertsteuererhöhung und mit 64 Prozent Ja zur AHV-Revision, Frauen hingegen klar Nein zu beiden Vorlagen (45% Ja-Anteil resp. 38% Ja-Anteil). Ein solch grosser Unterschied beim Geschlecht gab es bisher in keiner VOX-Analyse. Ausserdem haben sich Frauen später zu einer Entscheidung durchgerungen: 13 Prozent haben bei der Mehrwertsteuererhöhung «im letzten Moment» gestimmt, wohingegen durchschnittliche 7 Prozent der Männer sich erst ganz am Schluss entschieden haben. Für das Gros der Männer gibt es keinen Grund, dass Frauen früher pensioniert werden als Männer. Frauen hingegen verlangen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, bevor die Rentenhaltererhöhung diskutiert wird. Der andere Graben verlief über die Parteisympathien: Während SP- und Grüne (sowie Parteiungebundene) deutlich Nein sagten, waren Sympathisierende von allen anderen Parteien klar dafür.

Insgesamt haben bei der Mehrwertsteuerhöhung (aber nicht bei der AHV-Vorlage) Personen, die sich als «links» einstufen, nur ganz knapp mehrheitlich Nein gestimmt (49% Ja-Anteil), wohingegen Personen von «linksaussen» klar Nein gestimmt haben. Mit anderen Worten gab es bei der Mehrwertsteuerhöhung eine klare Ja-Mehrheit von einer breiten Mitte bis nach rechtsaussen. Das war bei der AHV-Revision nicht der Fall.

Für die Ja-Seite ist klar, dass die Stabilisierung der AHV dringend und notwendig ist – und die vorgeschlagene Lösung fair. Für die Nein-Seite geht die AHV-Reform aber auf Kosten von Einkommensschwachen und der Mittelschicht – sowie der Frauen. Die Frauen werden doppelt bestraft, da sie bereits heute einen Drittel weniger Rente als die Männer erhalten. Ausserdem ist die aktuelle Teuerung für die betroffenen Personengruppen aktuell schon kostspielig genug. Dennoch haben sich die Pro-Argumente durchgesetzt, zum Teil auch aus solidarischen Gründen. Denn es ist ungerecht, die AHV auf Kosten der nächsten Generation finanziell auszuhöhlen, aber vor allem ist die AHV-Reform dringend nötig, auch weil die Menschen immer älter werden und länger AHV-Beiträge beziehen.

Insgesamt hat das Stimmvolk knapp Ja zur finanziellen Stabilisierung der AHV gesagt. Dabei ist die Mehrwertsteuererhöhung von einer breiten Mehrheit angenommen worden. Die AHV-Änderung hingegen ist auf grossen Widerstand aufseiten der (jungen) Frauen gestossen, die zukünftig umso stärker auf Geschlechtergerechtigkeit – und insbesondere Lohngleichheit – pochen werden, da sie mit der Erhöhung des Frauenrentenalters einen klaren Beitrag zur Stabilisierung der AHV leisten.

Verrechnungssteuer: Geschlossene Linke und Frauen bringen Verrechnungssteuer zu Fall

Mit der Aufhebung der Verrechnungssteuer auf Zinsen für in der Schweiz ausgegebene Obligationen sollte ein Teil des Obligationengeschäfts in die Schweiz geholt werden. SP, Gewerkschaften und Grüne haben dagegen mit Verweis auf mögliche Steuerkriminalität von Unternehmen das Referendum ergriffen. Die Stimmenden haben die Vorlage mit einer Mehrheit von 52 Prozent abgelehnt. Das Resultat fiel knapper aus als bei der Aufhebung der Stempelabgabe am 13. Februar 2022, war aber das zweite erfolgreiche Referendum der Linken gegen eine Steuervorlage im gleichen Jahr und insgesamt das fünfte erfolgreiche Referendum der Linken in der Legislatur. Die Diskussion verlief etwas im Schatten der anderen Vorlagen: Der Vorlage wurde auch die geringste individuelle Bedeutung aller Abstimmungen vom 25. September 2022 zugeschrieben. Für den Erfolg ausschlaggebend war die Geschlossenheit der Linken. So stimmten gerade einmal 7 Prozent der Anhängerschaft der Grünen und 22 Prozent der SP-Anhängerschaft für die Vorlage. Wer sich selber in der Mitte oder rechts davon positionierte, nahm die Vorlage mehrheitlich an. Entscheidend für das Nein war auch das Vertrauen in die Gewerkschaften und ein Misstrauen den Konzernen gegenüber. Im Gegensatz zum AHV-Gesetz setzten sich bei der Verrechnungssteuer die Frauen durch. Sie stimmten dem Gesetz nur zu 40 Prozent zu, während die Männer der Vorlage mit 56 Prozent zugestimmt haben. Die offen genannten Motive der Ja-Seite blieben eher vage im Sinne des Wirtschaftsstandorts, und das konkrete Arbeitsplatzargument wurde kaum aktiv genannt. Die Nein-Seite übernahm dagegen die konkrete Kritik des Referendumskomitees. Viele empfanden Steuererleichterungen für Unternehmen als ungerecht und befürchteten, dass Normalbürger im Gegenzug stärker belastet werden.


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Tobias Keller

Tobias Keller

Projektleiter und Teamleader Data Analytics